Backstage

Ballet and Wilderness

15 Jahre Ballett und Wildnis: Die Mischung macht's

by Till Meyer

Am Anfang stand eine Idee: Ein Staatsballett, eine Staatsoper, ein Nationaltheater, das sind die Aushängeschilder für die Leistungen, die in einem Bundesland im Sektor der Hochkultur erbracht werden. Ein Nationalpark wiederum ist das Aushängeschild für die Leistungen eines Landes zum Schutz seiner Natur, zur Bewahrung seiner landestypischen Artenausstattung. Die Mischung aus beidem, Natur und Kunst, bilden seit 2004 die Quintessenz des Projekts „Ballett und Wildnis“. Die letzten fünf Jahr trug das Bayerische Junior Ballett München das Projekt mit Erfolg weiter.

Johann Wolfgang von Goethe wäre fasziniert von der Mischung. Der Schriftsteller, Dichter, Naturforscher und herzogliche Minister schrieb um 1800 in einem Sonett: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen; und haben sich, eh man es denkt, gefunden.“ 

Karl Friedrich Sinner, damaliger Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, war schnell von der Idee zu überzeugen: „Ein Ausflug des Bayerischen Staatsballetts in unseren Park? Klar, wir werden vorbereitet sein!“ Die Ballett-Company durfte kommen; Führungen und Übernachtung im Wildnis-Camp des Nationalparks inklusive. Aus der Direktion des Staatsballetts kam der Vorschlag, zu dem Ausflug in den Nationalpark ein paar Original-Kostüme mitzunehmen, darunter auch ein Solistinnen-Tutu aus dem Ballett „Schwanensee“. 

Das Programm für den Besuch des Staatsballetts war ausgesprochen dicht, galt es doch den ersten Nationalpark Deutschlands (gegr. 1970) u.a. für zukünftige Ausstellungen ins Licht der Hochkultur zu rücken. Geführte Natur-Wanderungen, Fotoshooting, Gespräche am Lagerfeuer. Um nur einen der fotografischen Höhepunkte zu beschreiben: angetan mit dem wertvollen Schwanensee-Kostüm watete Lisa-Maree Cullum, erste Solistin des Balletts, in einen Waldsee und führte – als sei nichts selbstverständlicher – verschiedene Ballettposen vor, darunter ein  Cambré derrière, eine lyrische gen Himmel gerichtete Verbeugung rückwärts.

Es folgten diverse Exkursionen über die Jahre – auch unter Leitung des amtierenden Nationalparkdirektors Dr. Franz Leibl. Mit eigenen Ideen und besonderem Elan dabei waren auch zwei Halbsolisten des Staatsballetts: Valentina Deviana und Norbert Graf. Doch schwer vorstellbar, dass die von Lisa Callum vorgeführte Figur im Waldteich 2003 einmal übertroffen werden könnte.

Doch genau das passierte, als eine Busladung Studenten und Stipendiaten der Bosl-Stiftung im Sommer 2018 den Nationalpark Bayerischer Wald besuchte.  Angeführt von der Stipendiatin Eloise Sacilotto (heute Staatsballett Berlin), die, angetan im orangen Kostüm, im seichten Wasser wilde ekstatische, stakkatoartige Verrenkungen vollführte, watete ihr hinterher eine Gruppe Tänzerinnen und Tänzer mit ausladenden wildtierhaften Staksschritten vom dichtgewachsenen Ufer hinein in den einen kleinen und ziemlich kalten Bergsee.  

Am frühen Vormittag des nächsten Tages und angeleitet durch die Choreografin Martina La Ragione wurde eine Einstudierung im urwaldhaften Hans-Watzlik-Hain dem staunenden den Publikum präsentiert. „Bitte weniger Ästhetik und mehr Natürlichkeit“. Die Zurufe der Choreographin, ließen ahnen, dass es hier nicht um die konventionelle romantische Ballett-Ästhetik ging, sondern um neue Bewegungs-Qualitäten, und auch eine neue Ästhetik, die allerdings ebenfalls auf Basis des wilden und naturhaften basieren sollte.

Während sich einige Nationalparkbesucher über dieses Spektakel gehörig wunderten, war den Kennern klar, dass hier nur Ballettgeschichte neu in Szene gesetzt wurde, denn in vielen Balletten wuchern Wald, Wildnis und Natur. In «Giselle» (1841),wird die Titelheldin zu einer Wili, einem überirdisch-verwirrend schönen Wesen, welches die armen Burschen tief in den unheimlichen Wald lockt. Giselles Grab, so stellte die Ballettforscherin Marion Kant fest, lag mitten im Deutschen Wald. In Balletten wie «La Sylphide» (1832) «Sylvia» (1877), «Schwanensee» (1877) oder «Les Sylphides» (1907), aber auch «Nachmittag eines Fauns» (1912) werden die Grenzen zwischen Naturreich und Menschenwelt durchlässiger gemacht.

Es ist diese Erkenntnis, die knapp zwei Jahrzehnte nach der Pariser Premiere von Giselle durch Charles Darwin 1859 in naturwissenschaftlicher Form in Umlauf gebracht wurde.  Dies hat sich dann auch nach und nach als Grundidee des Projekt „Ballett und Wildnis“ herauskristallisiert: Menschen sind Teil der Evolution. Schon deswegen gebührt den noch verbleibenden ursprünglichen Naturräumen besondere Rücksichtnahme, freilich nicht unter Ausschluss der Menschen, sondern immer unter deren Einbindung, was ein besonderes Einstellung („Attitüde“) der Menschen zu den sie umgebenden Räumlichkeiten bedeutet; gewiss eine Steilvorlage für die tänzerische Auseinandersetzung mit dem Thema Wildnis.

Es gibt weitere Parallelen zwischen dem künstlerischen Tanz und Wildnis. „Der Tanz“, schreibt die Theaterwissenschaftlerin Annegret Gertz, „gehörte zu einem der Lieblingsmotive der Romantik, besonders seine gefährlichen und abgründigen Seiten.“ Dasselbe gilt auch für Wildnis. Im Gegensatz zu dem landläufigen Naturbegriff wird mit dem Wort Wildnis oft auch das Gefährliche, Abgründige und Chaotische assoziiert. Je wilder (= unkultivierter) eine Landschaft, desto schöner, erhabener oder verwunschener wurde sie von den Romantikern empfunden.

Wolfgang Oberender, vormals Dramaturg des Bayerischen Staatsballetts, brachte es — ein bisschen anders freilich— auf dem Punkt: „Das wildeste an dem Projekt „Ballett und Wildnis“ sind immer noch die Tänzer*innen“. Kein Wunder, dass die Tänzer*innen mit Verve und Herzblut dabei waren und einige sich sogar wünschten, „auch einmal draußen in der Wildnis zu tanzen“. Die Umsetzung dieses Tänzer-Wunsches führte ein Jahr später – nach diversen technischen, bürokratischen und auch finanziellen Hürden – zu den viel beachteten Aufführungen auf einer eigens gezimmerten Holzbühne. Dass diese Hürden überwunden werden konnten, lag auch an der unkonventionellen Zusammenarbeit zwischen dem Bayerische Staatsballett auf der einen Seite und dem Bayerischen Staatsministerium für Umwelt- und Verbraucherschutz auf der anderen. Unter den Künstlern, die die Bretter der Waldbühne zum Schwingen brachten und besonders auffielen durch ausladenden Sprünge und spektakulären wie lyrischen Pas de deux, war auch ein junger Tänzer namens Olivier Vercoutère, der heute als Trainingsmeister bei der Bayerischen Junior Ballett München arbeitet.  

Doch da es in Bayern nicht nur einen, sondern zwei Nationalparke gibt, wollte man auch im zweiten Nationalpark des Landes, dem 1978 gegründeten Nationalpark Berchtesgaden nicht nachstehen. Nach diversen Exkursionen — wieder mit Fototerminen in Original-Kostümen — wurde im Jahr 2007 Auszüge aus dem Ballett «Giselle» auf einer Bergwiese zur Aufführung gebracht.

Nach längerer Pause konnten die Aufführungen wieder aufgenommen werden, diesmal in dem mit Europadiplom ausgezeichneten Naturschutzgebiet Weltenburger Enge an der Donau und erstmals mit dem Tänzer*innen des Bayerischen Junior Balletts München, das damals noch als „Bayerisches Staatsballett II – Junior Company“, geführt wurde. Zwei Jahre später, 2015,  landete die Truppe erneut in der Wildnis, auf dem ehemaligen Panzerschießplatz in Šumava in Tschechien, bei dem Nationalparkdorf Prášily, wo mit drei Werken bekannter Choreografen (Nacho Duato, Ivan Liška und Hans van Manen ) die deutsch-tschechische Zusammenarbeit im grenzübergreifenden Naturschutz zelebriert wurde.

Enthusiastischer Motor des Projekts „Ballett und Wildnis“ ist von Anfang an Ivan Liška, Vorstandsvorsitzender der Heinz-Bosl-Stiftung und Künstlerischer Leiter der Bayerischen Junior Balletts München. Den in Prag geborene Tänzer, Choreograf — und von 1998 bis 2016 Direktor des Bayerischen Staatsballetts — verbindet so manche Jugenderinnerung mit den ursprünglichen Naturlandschaften im bayerisch-böhmischen Grenzgebirge. „In meiner Schulzeit in Prag“, erinnert sich Liška, unternahmen wir biologische Exkursionen in diese artenreiche, ursprüngliche gebliebene Wunderwelt. Gleichzeitig war sich Liška als — Sprössling einer Künstlerfamilie — immer auch des reichen Schatzes an Kultur, an Sagen und Mythen bewusst, die diese Region seit Jahrhunderten auszeichnet.  

Es war nicht nur die Mischung aus natürlicher und kultureller Vielfalt, die Liška in seiner Jugend, wie er sagt, erlebt und erwandert“ hatte, die ihn dazu bewogen hatten, nun dem Ballettnachwuchs das wilde Bayern näher zu bringen. Bei „Ballett und Wildnis“ geht es ihm immer auch um die Bewusstseinsbildung des Nachwuchses. Im Tanzportal Bayern heiß es: „Durch Ballett und Wildnis regte Ivan Liška die Tänzer*innen dazu an, den Verbindungslinien zwischen Natur, Mensch und Kultur nachzuspüren“. 

Das Projekt „Ballett und Wildnis“ wurde mehrfach ausgezeichnet. 2007 ernannte die Internationale „Wild Foundation“ das Bayerische Staatsballett zum „Weltweiten Botschafter der Wildnis“. Gleich dreimal, 2014, 2016 und 2018 wurde „Ballett und Wildnis“ als „Ausgezeichnetes Projekt UN-Dekade Biologische Vielfalt“ prämiert. 2017 erhielt Ivan Liška von der damaligen Bayerische Umweltministerin Ulrike Scharf den Bayerischen Verdienstorden für dessen besonderen Verdienste um die Umwelt.