Music
Maskenspiele der Vergänglichkeit: Jiří Kyliáns »Un Ballo« nach der Musik von Maurice Ravel
by Harold Hodeige
»Ich habe nie die Notwendigkeit verspürt, meine ästhetischen Grundsätze zu formulieren, weder für andere noch für mich«, bekannte Maurice Ravel in den Lettres, die 1956 posthum in der Revue de Musicologique veröffentlicht wurden.
Maurice Ravel (1875 – 1937)
»Le Tombeau de Couperin«
daraus: Menuet: Allegro moderato
»Pavane pour une infante défunte«
»Würde man mich dazu auffordern, so würde ich darum bitten, mich mit den einfachen Bemerkungen begnügen zu dürfen, wie sie Mozart zu diesem Thema gemacht hat. Er beschränkte sich auf die Feststellung, dass es nichts gebe, was die Musik nicht versuchen, wagen oder darstellen könne, vorausgesetzt, sie höre nicht auf zu bezaubern und bleibe stets Musik.« Das Gewissen des Künstlers, heißt es weiter, »zwingt uns dazu, selbst gute Arbeiter zu werden. Mein Ziel ist daher technische Perfektion. Ich vermag es unablässig anzustreben, da ich sicher bin, es nie zu erreichen.«
Was Ravel hier zu Protokoll gab, ist typisch französisch: Musik bedarf keiner Metaphysik, sie soll »bezaubern« – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Wunder, dass sich der Komponist selbst nicht als ein in Klängen denkender Philosoph verstand, sondern als Handwerker: »Nichts«, so der mit Ravel befreundete Dichter Léon-Paul Fargue, »hatte er lieber, als dass man ihn mit einem solchen verglich. Es gefiel ihm, Dinge zu machen und sie gut zu machen …« Natürlich hatte Ravel als »Meister klingender Masken« (Theodor W. Adorno) besondere Freude an »gut gemachten« Verkleidungen, wie etwa seine handwerklich brillant gearbeitete Suite Le Tombeau de Couperin zeigt – dem Titel nach ein »Grabmal« zu Ehren des berühmten französischen Cembalisten, wobei Ravel im Erstdruck jeden Satz einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Freund widmete. Die Stücke sind jedoch »weniger eine Hommage an Couperin […] als vielmehr an die gesamte französische Musik des 18. Jahrhunderts« (Ravel) – eine mit formelhaften Wiederholungen und exakt eingehaltenen Viertaktperioden raffiniert in Szene gesetzte Stilisierung der Hof- und Gesellschaftstänze des 18. Jahrhunderts, deren Stilkopie von einer »modernen« Harmonik gekonnt gebrochen wird.
Ähnliches ließe sich über das 1899 im Auftrag der Fürstin Edmond de Polignac alias Winaretta Singer entstandene Klavierwerk Pavane pour une infante défunte sagen, weshalb Ravel das Stück auch als »Erinnerung an eine Pavane« bezeichnete, die »eine kleine Prinzessin in alter Zeit am spanischen Hof getanzt haben könnte«. Das althergebrachte Schema des alte Schreittanzes (A–A’–B–B’–C–C’) wird nur indirekt aufgegriffen und geschickt zu einer rondoartigen Anlage umgedeutet, indem der A-Teil zum Refrain wird (A-B-B’-A’–C–C’–A’’). Immer wieder ärgerte sich Ravel darüber, dass sein Klavierstück, welches er 1910 in ein betörendes Orchestergewand kleidete, oft viel zu langsam gespielt wurde. Bei derartigen Gelegenheiten bemerkte er bissig, dass nicht die Pavane, sondern die Infantin zu Grabe getragen würde. Tatsächlich lässt der getragene Trauermarsch, dem von der ersten Note an ein irisierender Nimbus anhaftet, die Welt des kastilisch-habsburgischen Hofzeremoniells anklingen sowie das faszinierende Ambiente des Escorial-Palastes Karls V.
Jiří Kylián, der als einer der bedeutendsten Choreographen unserer Zeit seit den frühen 1970er Jahren mehr als 100 Werke kreiert hat – dreiviertel davon für das Nederlands Dans Theater (NDT) –, verwendete die beiden berühmten Ravel-Werke für Un Ballo: ein ebenso zeitloses wie international gefeiertes Stück voller Eleganz und Raffinesse, das 1991 für die Nachwuchsformation des Nederlands Dans Theaters (NDT II) entstanden ist. Auf drei vom Charakter her völlig unterschiedliche Pas de deux folgt ein Abschnitt für sechs Paare, die aber nur scheinbar gleich agieren. »Obwohl dieses Stück für junge Tänzer kreiert wurde«, so Kylián, »ist das Thema der Vergänglichkeit und des Ablebens konstant vorhanden. […] Meine visuelle Inspiration kam von Diego Velásquez und seinen Portraits der Kinder der königlichen Spanischen Familie. In den verletzlichen Gesichtern der Kinder, die mit größter Sorgfalt und Verständnis gemalt sind, spüren wir die Vorahnung des Todes … wobei ihre aufwendigen Kostüme eher durch flüchtige Pinselstriche dargestellt sind. Selten habe ich die Tiefe und die Vergänglichkeit des Lebens so dicht beieinander gesehen!«