Essay
Rückkehr in kein fremdes Land
by Anna Beke
„Während meiner vielen Besuche beim Bayerischen Staatsballett konnte ich mich nie dem mächtigen Eindruck des Nationaltheaters entziehen, einem Gebäude, das eng mit München verbunden ist. Es ist das unruhige Herz dieser Stadt.“ – Jiří Kylián, 2008
Während meiner vielen Besuche beim Bayerischen Staatsballett konnte ich mich nie dem mächtigen Eindruck des Nationaltheaters entziehen, einem Gebäude, das eng mit München verbunden ist. Es ist das unruhige Herz dieser Stadt. Jiří Kylián, 2008
Seit rund einem halben Jahrhundert bilden die Werke Hans van Manens (*1932) und Jiří Kyliáns (*1947) feste Säulen im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts, zu einer Zeit als die Kompanie nicht einmal so hieß: Schon unter Dieter Gackstetter waren die beiden Choreografen in den 1970er Jahren gern gesehene Gäste in München, mit der Staatsballett-Gründerin Konstanze Vernon nahm die Ära van Manen jedoch Fahrt auf: Als Interpretin von »Große Fuge« (1971) oder »Septett Extra« (1973) wusste die Tänzerin um den Wert des sich zu dieser Zeit herausbildenden Œuvres des Niederländers und band ihn mit typischer Voraussicht an ihr Ensemble. Diesem gefiel es ebenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt, wie Vernons Nachfolger Ivan Liška betont: „Erstens mochte Hans München und zweitens schätzte er diesen Neuanfang, den Konstanze durch die Etablierung des Bayerischen Staatsballetts erkämpft hatte. Hans war immer für Emanzipation.“ Auch Kylián wurde von Vernon oftmals nach München eingeladen und vertraute der Kompanie unter Liška weitere choreografische Kostbarkeiten an. Jedes einzelne der Werke bedeutete einen Schatz fürs Repertoire des Bayerischen Staatsballetts und später Bayerischen Junior Balletts München und rief beim amtierenden Direktor „atemberaubende Zustände“ hervor. Eine Ehrensache, dass Kylián und van Manen ihre langgehegte Münchner Freundschaft mit eigenen Werken besiegelten: Anlässlich des 20-jährigen Staatsballett-Jubiläums kreierte Kylián 2009 mit »Zugvögel« seine letzte abendfüllende Choreografie, und van Manen ehrte das Ensemble bereits 1994 mit dem Pas de deux »Nacht«. Das Staatsballett feierte die Lebensleistung beider Ausnahmekünstler, deren Namen vor allem mit dem Nederlands Dans Theater in Verbindung stehen, seinerseits mit einer Hommage: Im Dezember 2002 gelangte das „Portrait Jiří Kylián“ und im Februar 2005 das „Portrait Hans van Manen“ auf die Bühne des Nationaltheaters.
Die zweite Heimat – oder die dritte
Bereits lange Zeit währt die besondere künstlerische Verbindung zwischen München und den beiden Choreografen also, wie van Manen einst für sich selbst nonchalant bemerkte: „Es ist auch fast nicht möglich, Deutschland etwas abzuschlagen… es ist doch meine zweite Heimat.“ Tatsächlich war van Manens Mutter deutscher Herkunft, und er selbst betonte im Laufe seiner Karriere gerne, dass er vor allem den deutschen Kritikern seinen Durchbruch verdanke, was 1993 in der Auszeichnung mit dem Deutschen Tanzpreis gipfelte. Kyliáns Großmutter stammte aus Ostpreußen, die Muttersprache seiner an der ukrainisch-polnischen Grenze geborenen ‚matka‘ war deutsch und seine künstlerische Laufbahn nahm von Stuttgart aus ihren Anfang. Beide Künstler waren hierzulande stets willkommen, wie Liška in Bezug auf seinen Lebensfreund Kylián feststellt: „Jiří kannte das Ensemble, er kannte München. Irgendwann hat er auch gesagt, wenn Holland nicht gekommen wäre, vielleicht wäre es München geworden.“ Doch van Manen und Kylián hatten ihre Heimstätten bereits gefunden: Van Manen fungierte von 1961–1971 als künstlerischer Leiter sowie 1988–2003 als Hauschoreograf des Nederlands Dans Theaters und gehörte von 1973–1987 dem Het Nationale Ballet in leitender Funktion an. Kylián ist 1968 als Stipendiat der Londoner Royal Ballet School von John Cranko entdeckt und ans Stuttgarter Ballett engagiert worden; hier debütierte er 1970 an der Noverre-Gesellschaft mit »Paradox« ebenso als Choreograf. Als nächste Station folgte Den Haag, wo man dem jungen Tschechen 1975 die Ko-Direktion des NDT übertrug: 34 Jahre wird er bleiben – bis 1999 als Direktor und bis 2009 als Hauschoreograf – und dem Ensemble zu höchster internationaler Reputation verhelfen. Im Jahr 1978 gründete Kylián das NDT II als ‚Sprungbrett‘ blutjunger Tänzer nach ihrem Abschluss – Vorbild des Bayerischen Junior Balletts München. Diesem folgte 1991 das NDT 3 für Tänzer „ab vierzig bis tot“, das auf den Erfahrungsschatz reifer Tanzkünstler baute. Bis 2006 hatte diese Truppe Bestand und bildete mit dem NDT 1 und NDT 2 eine weltweit einmalige Kompanie-Struktur. Zum 50. Geburtstag des NDT verabschiedete sich Kylián 2009 mit »Mémoires d’Oubliettes« von seiner Leib-und-Seelen-Kompanie.
Lässt sich bei Kylián von einer künstlerischen Kontinuität sprechen, so war van Manens Werdegang stets von Brüchen begleitet: Kyliáns Ballettausbildung startete mit 9 Jahren an der Prager Nationaloper und das Leben des Enkelsohns eines Dirigenten war von Kindesbeinen an künstlerisch geprägt. Van Manen entflammte zwar ebenso noch in seiner Jugend für das Theater, er absolvierte jedoch zunächst ab 1945 eine Ausbildung zum Maskenbildner und kam erst 19-jährig zum Tanz. Nach kurzer Zeit als professioneller Tänzer am Niederländischen Nationalballett – für das er mit »Feestgericht« 1957 einen erstmals preisgekrönten choreografischen Beitrag leistete und dem Engagements beim Ballet Roland Petit und NDT folgten – entschied er sich ab 1961 endgültig für die schöpferische Seite des Tanzes.
Noch heute schwelgt Liška in Erinnerung an den agilen, jugendlich wirkenden van Manen, der 1972 die Proben zur deutschen Erstaufführung von »Große Fuge« an der Deutschen Oper am Rhein leitete: „Hans konnte sich wunderbar bewegen, und es war schön zu sehen, wie er uns mit seinen Augen auf den Weg in seine Ästhetik führte.“ Für den 22-Jährigen wurde diese Begegnung zu einem prägenden Erlebnis: „Nach der erfolgreichen Premiere dachte ich, jetzt bin ich Tänzer! Es war ein weiter Weg, den ich zurückgelegt hatte, um zu wachsen und zu lernen, und von Hans angeleitet zu werden. Aber jetzt kam die künstlerische Satisfaktion, das Gefühl des eigenen Nutzens. Es gab einen Sinn, Tänzer zu sein.“
Tanz handelt von Tanz
Kam das neuerrungene Bewusstsein Liškas über den eigenen Nutzen als Tänzer fast einer Offenbarung gleich, so bezeichnet Kylián die einstige Bemerkung einer Tänzerin bei einer Probe, ob es notwendig sei, dass ihr Partner an ihr wie an einem Baum hochklettere, als choreografischen Befreiungsschlag. Denn er entgegnete ihr, nein, es sei nicht nötig: „Nichts von alledem, was ich hier tat, war notwendig. […] Und diese Erkenntnis, dass das, was ich mache, absolut nicht nötig ist, verlieh mir Flügel.“
Ein Meister künstlerischer Befreiung war stets ebenso van Manen, der keinen weiteren Sinn in seiner choreografischen Arbeit sieht, als den der Bewegung selbst: „Tanz handelt von Tanz. Man sieht, nur der Mensch kann das visualisieren, kein Tier, kein Wort. Das kann nur der Tänzer. Und für mich ist das genug“. Schnell wird jedoch ersichtlich, dass es sich bei ihm nur um keine linear erzählten Geschichten handelt – Geschichten sind es trotzdem. Denn der niederländische Choreograf ‚erzählt‘ in seinen Werken mit der Sprache des Tanzes tatsächlich sehr konkret von menschlichen Beziehungen und der oftmals erotischen Konfrontation der beiden Geschlechter Mann und Frau.
Zeitgleich zu den Erneuerern des dramatischen Handlungsballetts folgt van Manen den neoklassischen Spuren seines Vorbilds George Balanchine und entwickelt hochmusikalische Glanzstücke kürzeren Formats. Diese tarnen sich im Kleid der Abstraktion und stellen Perlen der Tanzkunst mit Fokus auf klangschöner Musik und auf den sich symbiotisch zu ihr bewegenden Körper dar – mehr ist bei solch hochkarätigem Konzentrat dann tatsächlich als Gehalt nicht ‚nötig‘: „Dekoratives darf nicht sein. […] Alles muss ganz einfach werden“, heißt es beim Choreografen selbst. Allerdings räumt Liška ein: „Die scheinbare Einfachheit seiner Werke lässt niemals die Kompliziertheit menschlicher Beziehungen aus. Du denkst: ‚Ach, das ist ganz einfach. Sie gehen von links nach rechts, treffen sich‘, aber was dazwischen passiert, welche unscheinbaren Bewegungen 100% einen Charakter definieren, ist einmalig.“ Diese für van Manen typisch luzide ‚Einfachheit‘ in der Struktur und zeitlose Schönheit in der Bewegung oder – wie es Liška formuliert – „unwiderstehliche Klarheit“, ist zum Aushängeschild des mittlerweile 90 Jahre jungen Choreografen geworden, dessen Gipfelwerke ‚modernen Balletts‘ häufig auf großer symphonischer bzw. konzertanter Kammermusik beruhen, wie beispielsweise in »Große Fuge« (1971) oder »Adagio Hammerklavier« (1973) zu Kompositionen Ludwig van Beethovens.
Seelenforscher
Bezeichnet sich van Manen selbst gern als „Ingenieur des Tanzes“ und wird er als Meister im Modellieren schönster menschlicher Formen verstanden, so interessiert sich Kylián am stärksten für deren Inhalt: „Ich denke, dass es meine Aufgabe als Choreograph ist, den Grund unserer Seele zu erforschen. Ich will wenigstens ein bisschen an dem kratzen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ Wobei es sich bei Kylián keineswegs um rein expressives Bildertheater handelt, sondern um athletisch-dynamische Tanzkunst auf höchstem Niveau, welche gänzlich ohne Pathos auskommt, dafür aber viel Tiefgang bereithält. Verleugnete Kylián ebenfalls nie den klassischen Tanz als Grundlage seiner Werke, so hat er diese deutlich stärker als sein Kollege mit Elementen des Modern Dance, der Akrobatik und – spezifisch für seine Arbeit – Elementen des Volkstanzes angereichert. Ein Tanzfest ist es zweifelsohne stets auch bei Kylián, fulminant und virtuos, doch diese Virtuosität ist an keiner Stelle Selbstzweck, sondern weist auf etwas Tieferliegendes hin: Kyliáns Werke haben Gewicht, lassen einen nicht los und ‚kratzen‘ ebenso sehr am Rezipienten, wie er selbst an der Frage nach dem Menschsein.
A way alone. Zentrales, immer wiederkehrendes Thema stellt bei Kylián die Frage nach dem »Kommen und Gehen« dar, nach dem Weg, den jeder allein auf sich nehmen muss, wenn sich der Vorhang des Lebens hebt und wenn er fällt. Dem Werden und Vergehen – wie auch allen Phasen der zerbrechlichen Gegenwart dazwischen – nähert sich Kylián auf mannigfache Weise. Ein Symbol für die Vergänglichkeit irdischen Lebens stellt für ihn das Theater dar, das an sich „etwas Statisches und Unbewegliches ist, und doch […] die Fähigkeit [besitzt], uns zu berühren und zu bewegen“. Das Theaterhaus, das unzählige Geschichten von Menschen erzählt, deren Leben es überdauert hat, ist Sinnbild für die menschlichen Wesen, „die hier durchgeflogen [sind] und ihre Tränen und ihr Lachen zurückgelassen haben“.
Viel Melancholie durchzieht Kyliáns Werke, waren Abschiede doch etwas, womit sich der Choreograf schon früh auseinanderzusetzen musste; etwa, als er an einem tränennassen Augusttag im Jahr 1968 seine Heimat mit einem der letzten Züge verließ, die aus Prag Richtung Westen gingen – ein einschneidendes Ereignis, das er nie vergessen sollte. »Rückkehr ins fremde Land« heißt ebenfalls eines der Werke Jiří Kyliáns, das er 1974 als Hommage an seinen viel zu jung verstorbenen Mentor John Cranko erschuf und das für den Übergang von einem Sein ins andere einsteht – dem Austausch einer Heimat für eine andere. Doch bei all der Wehmut über das ephemere Dasein kommen Freude, Ironie und eine große Portion Lebensbejahung ebenfalls nicht zu kurz – alle Facetten menschlichen Lebens, alle Farbschattierungen, hell bis dunkel, finden im so reichhaltigen und vielfältigen Lebenswerk des tschechischen Künstlers, als einem der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit, Platz.
Jiří Kylián »Lieder eines fahrenden Gesellen« / Hans van Manen »Concertante«
Geradewegs ideal schmiegt sich Kyliáns Kreation »Lieder eines fahrenden Gesellen« (1982) in das Repertoire des Bayerischen Junior Balletts München ein, mit dem es im Rahmen der Bosl-Matinee am 26. März seine Münchner Erstaufführung erleben wird. Die Choreografie basiert auf Gustav Mahlers gleichnamigem Liederzyklus von 1883–85, der einen Höhepunkt deutscher Liedkunst darstellt. In Kyliáns Œuvre bedeutet dieses neoklassisch gefärbte Werk ebenso wie einst für den Komponisten einen biografischen Wendepunkt: Verarbeitete hier der 24-jährige Mahler seine unglückliche Liebe zur Kasseler Hofsopranistin Johanna Richter, so steckt in der choreografischen Adaption all jene tiefe Schwermut, die Heimat und Abschied mit sich bringen: Kylián choreografierte dieses Werk direkt nach der Rückkehr aus Tschechien, wohin er 1982 nach vierzehn langen Jahren zum ersten Mal heimgekehrt war. Insofern stellen sowohl die Metapher des Wanderns als auch die Vielschattierungen menschlicher Liebe eine übergeordnete Rolle in der musikalischen Anlage und in der choreografischen Umsetzung dar. Anhand fünf getanzter Duette durchlebt der Zuschauer mit den zehn Tänzerinnen und Tänzern – in der Uraufführung u. a. mit Sabine Kupferberg, Jean-Yves Esquerre, Nacho Duato prominent besetzt – alle Phasen der Liebe, von himmelhochjauchzend zu Tode betrübt.
Als Konzentrat von Hans van Manens künstlerischem Lebenswerk kann ebenso das Stück »Concertante« (1994, NDT II) gelten, das vor einem Jahrzehnt, am 28. April 2013, im Rahmen einer Bosl-Matinee seine Münchner Erstaufführung feierte. Auch bei van Manen entwickeln hier nun vier Paare verschiedene Entwicklungsstufen menschlicher Zuneigung – dies zur Erfolgskomposition „Petite Symphonie Concertante“ Frank Martins von 1945. Hochmusikalisch spannt van Manen zu unheimlichen Cembalo-Klängen einen gleichfalls dramatischen Spannungsbogen und suggeriert ähnlich, wie es im Filmgenre Krimi der Fall ist, die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen. Wie wenig emotionslos van Manens Tanzwerke sind, davon zeugt »Concertante«, in welchem dem Zuschauer eine geballte Ladung Erotik, Humor, aber ebenso überraschend heftiger Aggression entgegenfliegt, mit welchen van Manen seine Tänzer choreografisch versieht und uns – als sein Publikum – mit dem Anblick sich virtuos bewegender elegant-ästhetischer Körper verführt. »Concertante« knistert hör- und sichtbar: Hier braut sich etwas zusammen, etwas ist in Bewegung und brodelt im Inneren. Beim Namen nennen kann man es jedoch nicht – noch nicht: Suspense!
Auf ein Wiedersehen
Publikumsverführer sind zweifellos beide – Hans van Manen und Jiří Kylián. Welch besondere Rolle insbesondere der tschechische Choreograf seinem Publikum beimisst, belegt er folgendermaßen: „Zugvögel sind nicht nur all die Künstler, die ihre Spuren im Theater hinterlassen haben, sondern gleichermaßen auch die Zuschauer, die den Weg ins Theater suchen. Ihnen allen ist das Theater ein Zuhause für kurze Zeit, ein Zuhause, das sie bevölkern, beleben, in Besitz nehmen, verändern und dem sie Spuren einschreiben, um es dann wieder zu verlassen – vergänglich, wie das Leben selbst.“
Spuren, wie viele davon haben Hans van Manen und Jiří Kylián mit ihren je mehr als hundert Stücken hinterlassen – für die Zuschauer, die Tänzer von heute und die Tänzer von morgen. Wie viele Generationen von Tänzern haben beide Choreografen mit ihrer einzigartigen künstlerischen Handschrift geprägt und wie viele ‚Bosl-Kinder‘ haben den ersten Schritt in die Theaterwelt mit van Manens wunderbarem Werk »Unisono« (1978) gewagt – Höhepunkt so mancher Bosl-Matinee.
Ob wir nun Publikum oder beteiligte Künstlerinnen und Künstler an einer Vorstellung sind, wir alle hinterlassen selbst unsere Spuren – auf diese oder andere Weise. Im schönsten Falle aber führen uns unsere eigenen Fußschritte immer wieder zurück ins Münchner Nationaltheater, wo es ein herzliches Wiedersehen gibt, spätestens bei der nächsten Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung.
Die zweite Heimat – oder die dritte
Bereits lange Zeit währt die besondere künstlerische Verbindung zwischen München und den beiden Choreografen also, wie van Manen einst für sich selbst nonchalant bemerkte: „Es ist auch fast nicht möglich, Deutschland etwas abzuschlagen… es ist doch meine zweite Heimat.“ Tatsächlich war van Manens Mutter deutscher Herkunft, und er selbst betonte im Laufe seiner Karriere gerne, dass er vor allem den deutschen Kritikern seinen Durchbruch verdanke, was 1993 in der Auszeichnung mit dem Deutschen Tanzpreis gipfelte. Kyliáns Großmutter stammte aus Ostpreußen, die Muttersprache seiner an der ukrainisch-polnischen Grenze geborenen ‚matka‘ war deutsch und seine künstlerische Laufbahn nahm von Stuttgart aus ihren Anfang. Beide Künstler waren hierzulande stets willkommen, wie Liška in Bezug auf seinen Lebensfreund Kylián feststellt: „Jiří kannte das Ensemble, er kannte München. Irgendwann hat er auch gesagt, wenn Holland nicht gekommen wäre, vielleicht wäre es München geworden.“ Doch van Manen und Kylián hatten ihre Heimstätten bereits gefunden: Van Manen fungierte von 1961–1971 als künstlerischer Leiter sowie 1988–2003 als Hauschoreograf des Nederlands Dans Theaters und gehörte von 1973–1987 dem Het Nationale Ballet in leitender Funktion an. Kylián ist 1968 als Stipendiat der Londoner Royal Ballet School von John Cranko entdeckt und ans Stuttgarter Ballett engagiert worden; hier debütierte er 1970 an der Noverre-Gesellschaft mit »Paradox« ebenso als Choreograf. Als nächste Station folgte Den Haag, wo man dem jungen Tschechen 1975 die Ko-Direktion des NDT übertrug: 34 Jahre wird er bleiben – bis 1999 als Direktor und bis 2009 als Hauschoreograf – und dem Ensemble zu höchster internationaler Reputation verhelfen. Im Jahr 1978 gründete Kylián das NDT II als ‚Sprungbrett‘ blutjunger Tänzer nach ihrem Abschluss – Vorbild des Bayerischen Junior Balletts München. Diesem folgte 1991 das NDT 3 für Tänzer „ab vierzig bis tot“, das auf den Erfahrungsschatz reifer Tanzkünstler baute. Bis 2006 hatte diese Truppe Bestand und bildete mit dem NDT 1 und NDT 2 eine weltweit einmalige Kompanie-Struktur. Zum 50. Geburtstag des NDT verabschiedete sich Kylián 2009 mit »Mémoires d’Oubliettes« von seiner Leib-und-Seelen-Kompanie.
Lässt sich bei Kylián von einer künstlerischen Kontinuität sprechen, so war van Manens Werdegang stets von Brüchen begleitet: Kyliáns Ballettausbildung startete mit 9 Jahren an der Prager Nationaloper und das Leben des Enkelsohns eines Dirigenten war von Kindesbeinen an künstlerisch geprägt. Van Manen entflammte zwar ebenso noch in seiner Jugend für das Theater, er absolvierte jedoch zunächst ab 1945 eine Ausbildung zum Maskenbildner und kam erst 19-jährig zum Tanz. Nach kurzer Zeit als professioneller Tänzer am Niederländischen Nationalballett – für das er mit »Feestgericht« 1957 einen erstmals preisgekrönten choreografischen Beitrag leistete und dem Engagements beim Ballet Roland Petit und NDT folgten – entschied er sich ab 1961 endgültig für die schöpferische Seite des Tanzes.
Noch heute schwelgt Liška in Erinnerung an den agilen, jugendlich wirkenden van Manen, der 1972 die Proben zur deutschen Erstaufführung von »Große Fuge« an der Deutschen Oper am Rhein leitete: „Hans konnte sich wunderbar bewegen, und es war schön zu sehen, wie er uns mit seinen Augen auf den Weg in seine Ästhetik führte.“ Für den 22-Jährigen wurde diese Begegnung zu einem prägenden Erlebnis: „Nach der erfolgreichen Premiere dachte ich, jetzt bin ich Tänzer! Es war ein weiter Weg, den ich zurückgelegt hatte, um zu wachsen und zu lernen, und von Hans angeleitet zu werden. Aber jetzt kam die künstlerische Satisfaktion, das Gefühl des eigenen Nutzens. Es gab einen Sinn, Tänzer zu sein.“
Tanz handelt von Tanz
Kam das neuerrungene Bewusstsein Liškas über den eigenen Nutzen als Tänzer fast einer Offenbarung gleich, so bezeichnet Kylián die einstige Bemerkung einer Tänzerin bei einer Probe, ob es notwendig sei, dass ihr Partner an ihr wie an einem Baum hochklettere, als choreografischen Befreiungsschlag. Denn er entgegnete ihr, nein, es sei nicht nötig: „Nichts von alledem, was ich hier tat, war notwendig. […] Und diese Erkenntnis, dass das, was ich mache, absolut nicht nötig ist, verlieh mir Flügel.“
Ein Meister künstlerischer Befreiung war stets ebenso van Manen, der keinen weiteren Sinn in seiner choreografischen Arbeit sieht, als den der Bewegung selbst: „Tanz handelt von Tanz. Man sieht, nur der Mensch kann das visualisieren, kein Tier, kein Wort. Das kann nur der Tänzer. Und für mich ist das genug“. Schnell wird jedoch ersichtlich, dass es sich bei ihm nur um keine linear erzählten Geschichten handelt – Geschichten sind es trotzdem. Denn der niederländische Choreograf ‚erzählt‘ in seinen Werken mit der Sprache des Tanzes tatsächlich sehr konkret von menschlichen Beziehungen und der oftmals erotischen Konfrontation der beiden Geschlechter Mann und Frau.
Zeitgleich zu den Erneuerern des dramatischen Handlungsballetts folgt van Manen den neoklassischen Spuren seines Vorbilds George Balanchine und entwickelt hochmusikalische Glanzstücke kürzeren Formats. Diese tarnen sich im Kleid der Abstraktion und stellen Perlen der Tanzkunst mit Fokus auf klangschöner Musik und auf den sich symbiotisch zu ihr bewegenden Körper dar – mehr ist bei solch hochkarätigem Konzentrat dann tatsächlich als Gehalt nicht ‚nötig‘: „Dekoratives darf nicht sein. […] Alles muss ganz einfach werden“, heißt es beim Choreografen selbst. Allerdings räumt Liška ein: „Die scheinbare Einfachheit seiner Werke lässt niemals die Kompliziertheit menschlicher Beziehungen aus. Du denkst: ‚Ach, das ist ganz einfach. Sie gehen von links nach rechts, treffen sich‘, aber was dazwischen passiert, welche unscheinbaren Bewegungen 100% einen Charakter definieren, ist einmalig.“ Diese für van Manen typisch luzide ‚Einfachheit‘ in der Struktur und zeitlose Schönheit in der Bewegung oder – wie es Liška formuliert – „unwiderstehliche Klarheit“, ist zum Aushängeschild des mittlerweile 90 Jahre jungen Choreografen geworden, dessen Gipfelwerke ‚modernen Balletts‘ häufig auf großer symphonischer bzw. konzertanter Kammermusik beruhen, wie beispielsweise in »Große Fuge« (1971) oder »Adagio Hammerklavier« (1973) zu Kompositionen Ludwig van Beethovens.
Seelenforscher
Bezeichnet sich van Manen selbst gern als „Ingenieur des Tanzes“ und wird er als Meister im Modellieren schönster menschlicher Formen verstanden, so interessiert sich Kylián am stärksten für deren Inhalt: „Ich denke, dass es meine Aufgabe als Choreograph ist, den Grund unserer Seele zu erforschen. Ich will wenigstens ein bisschen an dem kratzen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ Wobei es sich bei Kylián keineswegs um rein expressives Bildertheater handelt, sondern um athletisch-dynamische Tanzkunst auf höchstem Niveau, welche gänzlich ohne Pathos auskommt, dafür aber viel Tiefgang bereithält. Verleugnete Kylián ebenfalls nie den klassischen Tanz als Grundlage seiner Werke, so hat er diese deutlich stärker als sein Kollege mit Elementen des Modern Dance, der Akrobatik und – spezifisch für seine Arbeit – Elementen des Volkstanzes angereichert. Ein Tanzfest ist es zweifelsohne stets auch bei Kylián, fulminant und virtuos, doch diese Virtuosität ist an keiner Stelle Selbstzweck, sondern weist auf etwas Tieferliegendes hin: Kyliáns Werke haben Gewicht, lassen einen nicht los und ‚kratzen‘ ebenso sehr am Rezipienten, wie er selbst an der Frage nach dem Menschsein.
A way alone. Zentrales, immer wiederkehrendes Thema stellt bei Kylián die Frage nach dem »Kommen und Gehen« dar, nach dem Weg, den jeder allein auf sich nehmen muss, wenn sich der Vorhang des Lebens hebt und wenn er fällt. Dem Werden und Vergehen – wie auch allen Phasen der zerbrechlichen Gegenwart dazwischen – nähert sich Kylián auf mannigfache Weise. Ein Symbol für die Vergänglichkeit irdischen Lebens stellt für ihn das Theater dar, das an sich „etwas Statisches und Unbewegliches ist, und doch […] die Fähigkeit [besitzt], uns zu berühren und zu bewegen“. Das Theaterhaus, das unzählige Geschichten von Menschen erzählt, deren Leben es überdauert hat, ist Sinnbild für die menschlichen Wesen, „die hier durchgeflogen [sind] und ihre Tränen und ihr Lachen zurückgelassen haben“.
Viel Melancholie durchzieht Kyliáns Werke, waren Abschiede doch etwas, womit sich der Choreograf schon früh auseinanderzusetzen musste; etwa, als er an einem tränennassen Augusttag im Jahr 1968 seine Heimat mit einem der letzten Züge verließ, die aus Prag Richtung Westen gingen – ein einschneidendes Ereignis, das er nie vergessen sollte. »Rückkehr ins fremde Land« heißt ebenfalls eines der Werke Jiří Kyliáns, das er 1974 als Hommage an seinen viel zu jung verstorbenen Mentor John Cranko erschuf und das für den Übergang von einem Sein ins andere einsteht – dem Austausch einer Heimat für eine andere. Doch bei all der Wehmut über das ephemere Dasein kommen Freude, Ironie und eine große Portion Lebensbejahung ebenfalls nicht zu kurz – alle Facetten menschlichen Lebens, alle Farbschattierungen, hell bis dunkel, finden im so reichhaltigen und vielfältigen Lebenswerk des tschechischen Künstlers, als einem der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit, Platz.
Jiří Kylián »Lieder eines fahrenden Gesellen« / Hans van Manen »Concertante«
Geradewegs ideal schmiegt sich Kyliáns Kreation »Lieder eines fahrenden Gesellen« (1982) in das Repertoire des Bayerischen Junior Balletts München ein, mit dem es im Rahmen der Bosl-Matinee am 26. März seine Münchner Erstaufführung erleben wird. Die Choreografie basiert auf Gustav Mahlers gleichnamigem Liederzyklus von 1883–85, der einen Höhepunkt deutscher Liedkunst darstellt. In Kyliáns Œuvre bedeutet dieses neoklassisch gefärbte Werk ebenso wie einst für den Komponisten einen biografischen Wendepunkt: Verarbeitete hier der 24-jährige Mahler seine unglückliche Liebe zur Kasseler Hofsopranistin Johanna Richter, so steckt in der choreografischen Adaption all jene tiefe Schwermut, die Heimat und Abschied mit sich bringen: Kylián choreografierte dieses Werk direkt nach der Rückkehr aus Tschechien, wohin er 1982 nach vierzehn langen Jahren zum ersten Mal heimgekehrt war. Insofern stellen sowohl die Metapher des Wanderns als auch die Vielschattierungen menschlicher Liebe eine übergeordnete Rolle in der musikalischen Anlage und in der choreografischen Umsetzung dar. Anhand fünf getanzter Duette durchlebt der Zuschauer mit den zehn Tänzerinnen und Tänzern – in der Uraufführung u. a. mit Sabine Kupferberg, Jean-Yves Esquerre, Nacho Duato prominent besetzt – alle Phasen der Liebe, von himmelhochjauchzend zu Tode betrübt.
Als Konzentrat von Hans van Manens künstlerischem Lebenswerk kann ebenso das Stück »Concertante« (1994, NDT II) gelten, das vor einem Jahrzehnt, am 28. April 2013, im Rahmen einer Bosl-Matinee seine Münchner Erstaufführung feierte. Auch bei van Manen entwickeln hier nun vier Paare verschiedene Entwicklungsstufen menschlicher Zuneigung – dies zur Erfolgskomposition „Petite Symphonie Concertante“ Frank Martins von 1945. Hochmusikalisch spannt van Manen zu unheimlichen Cembalo-Klängen einen gleichfalls dramatischen Spannungsbogen und suggeriert ähnlich, wie es im Filmgenre Krimi der Fall ist, die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen. Wie wenig emotionslos van Manens Tanzwerke sind, davon zeugt »Concertante«, in welchem dem Zuschauer eine geballte Ladung Erotik, Humor, aber ebenso überraschend heftiger Aggression entgegenfliegt, mit welchen van Manen seine Tänzer choreografisch versieht und uns – als sein Publikum – mit dem Anblick sich virtuos bewegender elegant-ästhetischer Körper verführt. »Concertante« knistert hör- und sichtbar: Hier braut sich etwas zusammen, etwas ist in Bewegung und brodelt im Inneren. Beim Namen nennen kann man es jedoch nicht – noch nicht: Suspense!
Auf ein Wiedersehen
Publikumsverführer sind zweifellos beide – Hans van Manen und Jiří Kylián. Welch besondere Rolle insbesondere der tschechische Choreograf seinem Publikum beimisst, belegt er folgendermaßen: „Zugvögel sind nicht nur all die Künstler, die ihre Spuren im Theater hinterlassen haben, sondern gleichermaßen auch die Zuschauer, die den Weg ins Theater suchen. Ihnen allen ist das Theater ein Zuhause für kurze Zeit, ein Zuhause, das sie bevölkern, beleben, in Besitz nehmen, verändern und dem sie Spuren einschreiben, um es dann wieder zu verlassen – vergänglich, wie das Leben selbst.“
Spuren, wie viele davon haben Hans van Manen und Jiří Kylián mit ihren je mehr als hundert Stücken hinterlassen – für die Zuschauer, die Tänzer von heute und die Tänzer von morgen. Wie viele Generationen von Tänzern haben beide Choreografen mit ihrer einzigartigen künstlerischen Handschrift geprägt und wie viele ‚Bosl-Kinder‘ haben den ersten Schritt in die Theaterwelt mit van Manens wunderbarem Werk »Unisono« (1978) gewagt – Höhepunkt so mancher Bosl-Matinee.
Ob wir nun Publikum oder beteiligte Künstlerinnen und Künstler an einer Vorstellung sind, wir alle hinterlassen selbst unsere Spuren – auf diese oder andere Weise. Im schönsten Falle aber führen uns unsere eigenen Fußschritte immer wieder zurück ins Münchner Nationaltheater, wo es ein herzliches Wiedersehen gibt, spätestens bei der nächsten Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung.