Essay
Immer einen Schritt voraus
by Eva Elizabeth-Fischer
Sie war ein Kriegskind, Jahrgang 1939. Der Winter 1940 ging als der härteste aller Zeiten in die Annalen der Stadt ein. Als Konstanze Herzfeld, geboren an einem 2. Januar in Berlin, eineinhalb Jahre alt war, fielen die ersten Bomben.
Sie hat von den Entbehrungen der ganz frühen Jahre, geprägt von Hunger, Kälte und Angst, nie gesprochen. Auch nicht über ihr musisches Elternhaus. Vater Friedrich Herzfeld war Dirigent, Musikschriftsteller und Kritiker. Zu ihm hatte sie wohl eine enge Bindung. Mutter Theresa war Opern- und Konzertsängerin. Offenbar aber begann Konstanzes eigentliches Leben, über das sie viel zu erzählen hatte, erst 1946 – da war sie sieben. Da wurde sie nämlich von einer russischen Ballettmeisterin mit damals noch schwarzem Wuschelkopf und dick getuschten falschen Wimpern in deren Ballettschule aufgenommen. Davor hatte das kleine Mädchen in der Oper die ‚Undine‘ gesehen. Die Tänzerin, die auf einer Muschel hereingetragen wurde, und noch mehr der aufbrandende Applaus beeindruckten es derart, dass es unbedingt selbst Tänzerin werden wollte.
Die Lehrjahre. Die Prägungen
Bereits mit 15 tanzte Konstanze kleine Rollen beim Berliner Ballett, wo sie zwei Jahre später zu Berlins jüngster Solistin befördert wurde. Die Dame mit der auffälligen Erscheinung, die ihre Lehrmeisterin wurde, war Tatjana Gsovsky. Die hatte unmittelbar nach Kriegsende im Westsektor der zerbombten Stadt zunächst als Ballettmeisterin an der Berliner Staatsoper gewirkt und dann das Berliner Staatsballett völlig neu aufgebaut mit einem sehr eigenen, stürmisch gefeierten Repertoire. 1953 bis 1966 regierte sie unumschränkt das Ballett an der Deutschen Oper Berlin mit dem Tänzer Gert Reinholm an ihrer Seite und gründete 1955 auch noch die Tourneetruppe Berliner Ballett, ein modernes Tanztheater auf klassischer Grundlage, mit dem sie in ganz Europa gastierte.
Gsovsky fand, als sie von Moskau nach Berlin kam, die denkbar besten Voraussetzungen vor: nämlich nichts, Tabula rasa. Der deutsche Ausdruckstanz war während der Nazizeit in Misskredit geraten; von (falschem) Pathos und chorischen Auftritten hatte man die Nase voll. Eine eigene, nennenswerte Balletttradition konnte Deutschland sowieso nicht vorweisen. Tatjana Gsovsky verband als Choreografin die russische Balletttradition, mit der sie aufgewachsen war, mit den dramatischen, nunmehr psychologisch unterfütterten Elementen des deutschen Ausdruckstanzes zu einer neuen Form des Ballettdramas. Das gab ihr die künstlerischen Mittel an die Hand, auch Werke der Weltliteratur wie etwa den ‚Hamlet‘ für die Ballettbühne zu adaptieren. Und als exquisites Surplus unterstützte sie dabei die damalige Musik-Avantgarde, unter ihnen Hans Werner Henze, Boris Blacher, Giselher Klebe und Luigi Nono, mit Auftragskompostionen.
Die Lehrmeisterin
Tatjana Gsovsky lebte ihren Zöglingen vor, wie eine Ballerina, tunlichst versehen mit einem Künstlernamen, zu sein hatte. Das galt auch für Konstanze, die sich auf Gsovskys Geheiß fortan Vernon statt Herzfeld nannte. Ätherisch und dabei glamourös sollte und wollte sie sein. Wie alle anderen präsentierte sie sich mit viel Schminke im Gesicht, das Haar, in der Mitte gescheitelt, zu einem strengen Knoten im Nacken gebändigt und den ach so schmalen Körper von Persianer oder Nerz umschmeichelt. Die Ballerina der Fünfziger-und Sechzigerjahre wurde vergöttert wie eine Diva, im Gegensatz zu den großen Sängerinnen aber miserabel bezahlt. Sie war dahingehend erzogen, auf Spitze den Platz an der Spitze zu beanspruchen als die Wahre, die Einzige, die jede andere neben sich als Rivalin begreifen und wegbeißen musste. Dass Konstanze Vernon auch das verinnerlicht hatte, bekamen später in ihren Münchner Jahren die beiden anderen Ersten Solistinnen des Opernballetts, Gislinde Skroblin und Margot Werner, deutlich zu spüren.
Eine mit einem ausgeprägten Willen ausgestattete Begabung wie Konstanze Vernon lernte von Tatjana Gsovsky aber auch, als Ballerina nicht nur Objekt der Verehrung zu sein, sondern sich zu einer handlungsfähigen, selbstbestimmten Persönlichkeit mit einem eigenen Kopf zu entwickeln. Ein Paradox, denn ‚sie hatte mich ganz fest in der Hand‘, sagte Vernon über die gestrenge Lehrmeisterin, von der sie sich erst mit 23 Jahren, als sie nach München ging, abnabelte.
Tatjana Gsovsky selbst musste erleben, dass Tänzer und Tänzerinnen gegen ihre absolute – auch ästhetische – Vormachtstellung rebellierten, indem sie in letzter Konsequenz das Berliner Staatsballett verließen, allen voran der Choreograf Gerhard Bohner und Vernons Tänzerinnen-Freundin Marion Cito, Pina Bauschs spätere Kostümbildnerin.
Gsovsky entfachte in Konstanze Vernon die Liebe zur russischen Balletttechnik nach der Schule Agrippina Waganowas. Ein steiniger Weg. Aufbegehren lag ihr fern.
Aber Vernon selbst bezeichnete sich gern als ‚Pferd‘, wenn es um die Kraft und die Ausdauer ging, mit der sie unerbittlich hart an sich arbeitete. Hinzu kam eine unmenschliche Disziplin – allesamt Eigenschaften, die sie eines Tages auch ihren Schülern und Schülerinnen abverlangen würde.
Die Partner Winfried Krisch
In ihren Münchner Jahren – Ballettchef Heinz Rosen hatte sie 1963 als Erste Solistin ans Bayerische Staatsopernballett geholt – war zunächst Winfried Krisch ihr Partner, rotblond und hochgewachsen. Krisch überragte sie auch noch, wenn sie mit ihren 1,68 plus ca 15 Zentimetern Schuhwerk auf Spitze stand. Das war ihr wichtig, denn ihr Anspruch an den passenden Bühnenpartner war schon früh ausgeprägt: ‚Die Linie des Körpers muss übereinstimmen! Ach, man muss dabei sogar an die Nase denken‘, sagte sie 1964 in einem Interview. Sie wusste schnell, dass Technik allein künstlerisch nicht reicht, wenn die menschliche Reife, die Darstellungskraft und vor allem die Seele fehlen. In Berlin hatte sie kurzzeitig Schauspielunterricht genommen, sich sogar überlegt, die Sparte zu wechseln, aber auch die Schauspielerei hat ihre damals stagnierende Karriere wider Erwarten nicht in Schwung gebracht. In München war es genau diese Balance von tänzerischem Können und Ausdruck, abgefedert durch ihre früh erworbene Berufserfahrung, die ihr zum Erfolg verhalf.
Fred Hoffmann
Hinzu kam das private Glück. Kaum drei Wochen am Ballett der Bayerischen Staatsoper, lernte sie ihren Lebenspartner kennen. Fred Hoffmann, dunkelhaarig, mit markanten Gesichtszügen, war ein smarter Beau, ein Frauenversteher, der gutes Geld mit seinem Filmverleih machte. Dass ihr Fred damals etliche Pfunde zu viel auf den Rippen hatte, wie sie gern lachend erzählte, wollte man angesichts des schlanken, wenngleich stattlichen Mannes an ihrer Seite nicht glauben. Drei Heiratsanträge hat sie abgelehnt, bis sie 1968 endlich ja sagte zu dem Mann, der ihr künftig in allen Lebenssituationen den Rücken freihalten würde, der mit Charme und Geschick die Kohlen aus dem Feuer holte, wenn seine Konstanze mal wieder ihren Mund nicht hatte halten können. O ja, sie hatte das, was man vulgo Berliner Schnauze nennt und war, was nicht immer diplomatisch opportun war, gut im Austeilen. Er hingegen konnte zurückstecken, wie es sich für den klugen Mann gehört, der hinter einer erfolgreichen Frau steht.
Heinz Bosl
Zu der Zeit reifte Konstanze Vernons Traumpartner heran. Sein Name: Heinz Bosl. 1962 engagierte Ballettchef Heinz Rosen sein Ziehkind ans Bayerische Staatsopernballett. Bosl, gebürtiger Dortmunder, der übers Rollschuhfahren zum Tanz gekommen war, aber neben Ballett auch Klavier studierte, hatte sich nach dem Besuch der Elevenklasse ganz fürs Ballett entschieden. Als Rosen ihn 1965 zum Solisten beförderte, war er erst 19. Er sah blendend aus: groß, schlank, dunkel, darüber hinaus begabt mit einer bestechenden Technik und vollendetem Ausdruck – ein Ballettprinz, ein Danseur noble wie aus dem Bilderbuch. Und bald, von 1967 an, Traumpartner von Konstanze Vernon. Er war ihr Romeo, ihr Prinz Siegfried, ihr Onegin – freilich mit dem Wermutstropfen versehen, dass sie ihn an der Oper mit der Femme fatale des Balletts Margot Werner teilen musste und auf Tourneen mit der inzwischen fast fünfzigjährigen Margot Fonteyn. Vernon hatte sich entschieden, sich auf München zu konzentrieren. Bosl, der mit Fonteyn quasi Rudolf Nurejew beerbte, hatte das Zeug zum internationalen Star und wollte in die Welt hinaus. Aber die Zeit, die ihm blieb, war kurz bemessen, denn er starb 1975 mit nur 28 Jahren an Leukämie.
Das Selbstverständnis
Konstanze Vernon, tanzte weiter, sah in John Cranko und später auch in John Neumeier die Heilsbringer, die den Tanz durch Handlungsballette bereicherten, in denen statt Märchengestalten und Exotik menschliche Dramen im Zentrum standen, die reichlich Rollenfutter für Tänzerinnen und Tänzer bereit hielten. Genau danach gierte sie, denn sie wollte lieber Julia oder Tatjana sein als das Geisterwesen Giselle. Und sie versuchte, Crankos Ermahnung zu beherzigen: ‚Du musst die Partie und nicht Konstanze tanzen.‘
Konstanze Vernon begriff sich immer als eine Künstlerin, die eine Rolle spielte. Auch deshalb war das Anfang der Siebzigerjahre auf den Ruinen des Ausdruckstanzes aufbrechende Tanztheater Pina Bauschs, in der die Tänzer und Tänzerinnen immer sie selbst waren und gleichzeitig durch die Inhalte die Überhöhung ihrer selbst, keine Option. Deutschland war damals nicht nur politisch geteilt. Im Tanz existierten nach den Umwälzungen den 1968er Jahre in der Bundesrepublik zwei Parallelwelten. Es dominierten an den Dreispartenhäusern das dramaturgisch immer noch am 19. Jahrhundert orientierte Handlungsballett und eine mehr oder minder interessant fortgeschriebene Neoklassik, während in Köln das Mitbestimmungsmodell um Jochen Ulrich und der Modern Dance, in Wuppertal, Essen, Bremen und Heidelberg dank wagemutiger Intendanten das Tanztheater von Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke und Johann Kresnik erst einmal die elend konservative Tanzkritik und das bildungsbürgerliche Publikum verschreckten.
Konstanze Vernon verteidigte eisern ihre Position. Noch ganz lange kommentierte sie die künstlerische Qualität der Tanztheaterleute wie auch späterhin die halsbrecherische Bravour der Forsythe-Tänzer mit dem Nachsatz‚… aber die können keinen ‚Schwanensee‘ tanzen.‘
Sie selbst tanzte unter den Ballettdirektoren Heinz Rosen, John Cranko, Dieter Gackstetter unbeirrt weiter ihr auf der Ballettklassik fußendes Repertoire. Einzige Ausnahme: 1973 Gerhard Bohners ‚Die Folterungen der Beatrice Cenci‘, ein hochexpressives Tanzdrama in einem ungewohnt freien, emotional aufgeladenen Bewegungsidiom. Sie tanzte auch unter Lynn Seymour, der ersten Frau nach dem Krieg auf diesem Posten, den sie wegen massiver psychischer Probleme nach zwei Jahren, 1980, wieder quittierte.
Vernon überdauerte sie alle, die häufig wechselnden Ballettdirektoren, auch ihr letztes Jahr unter Edmund Gleede.
1981 gab sie ihren Abschied von der Bühne, war noch einmal Tatjana in John Crankos ‚Onegin‘, deren Wandel darzustellen, nein zu leben, sie stets als künstlerische Erfüllung empfand.
Die Stiftung
Bereits während sie sich, auch verletzungsbedingt, allmählich auf das Ende als aktive Tänzerin vorbereitete, das möglicherweise mit dem Tod Heinz Bosls an den Horizont rückte, trieb sie schon ganz anderes um.
Im Bewusstsein, dass Heinz Bosl eine Ausnahmeerscheinung war, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland immer noch kein Ballettland war. Am Stuttgarter Ballettwunder hatten in Deutschland ausgebildete Tänzer und Tänzerinnen kaum Anteil. Sie waren international nicht konkurrenzfähig. In München, das keine Ballett-, sondern eine Musikstadt war, gab es die Kinderballettschule, die Elevenklasse des Balletts der Bayerischen Staatsoper. In der Ballettakademie, damals wie heute eine Abteilung der Musikhochschule, die, seinerzeit untergebracht im Anbau des Prinzregententheaters, buchstäblich ein Kellerdasein fristete, gingen trotz Aufnahmeprüfung Hinz und Kunz ein und aus. Deren Leiter Gustav Blank hatte offenbar irgendwann völlig den Überblick verloren.
Die Ballettausbildung lag fast überall im Argen. Aber das war nicht das einzige Manko. Hinzu kam, dass sich kaum Jungen für den Tänzerberuf erwärmten. Tänzer zu werden, hatte den Hautgout des Verweichlichten, wenn nicht gar Verbotenen: Tänzer waren doch alle schwul, so die landläufige Meinung. Homosexualität war seinerzeit noch tabu und stand laut §175 bis 1994 (!!!) unter Strafe.
Konstanze Vernon wusste, dass sie es schwer haben würde, gegen derlei Vorbehalte zu Felde zu ziehen. Aber sie versuchte es trotzdem, wohl auch dadurch ermutigt, dass ihr der verehrte John Cranko 1974 mit der Gründung seiner nach ihm benannten Schule in Stuttgart voran gegangen war.
1978 also lud Fred Hoffmann zu einer Pressekonferenz und verkündete zusammen mit seiner Frau Konstanze Vernon und seiner unverbrüchlich treuen Assistentin Dagmar Springer die Gründung der Heinz-Bosl-Stiftung zur Förderung junger Tänzerinnen und Tänzer. Die Rekrutierung und Ausbildung tanzfreudiger Jungen stand dabei eindeutig im Vordergrund. Man warb um sie, indem man die athletische Seite des Balletts hervorhob. Natürlich gab es noch weitere Stiftungsziele, für die etliche potente Sponsoren gewonnen werden konnten. So hatte Hoffmann mit einer Versicherung ein Lebensversicherungsmodell ausgearbeitet, die sich die Tänzer am Ende ihrer Karriere mit 40 Jahren auszahlen lassen konnten, um die Umschulung in einen neuen Beruf zu finanzieren. Keine Ballerina sollte mehr als Klofrau enden! Womit niemand gerechnet hatte, war, dass angehende Tänzerinnen und Tänzer nicht an morgen denken wollen.
Doch das Hauptaugenmerk der Stiftung richtete sich auf die Stipendien für begabte Jungen und Mädchen, die an der Ballettakademie von qualifizierten Lehrern im Waganowa-Stil ausgebildet werden sollten. Die Mädchen blieben nach wie vor in der Überzahl. Konstanze Vernon war der Ansicht, dass Tänzerinnen und Tänzer auf dieser starken klassischen Basis in der Lage sein würden, alle Stile tanzen zu können, womit sie bis zu einem gewissen Grad recht behielt. Selbst alles andere als autoritätshörig, handelte sie, wenn sie am Ruder war, stets nach der Devise divide et impera, was nicht jede(r) vertragen konnte, was sie allerdings durch zwei ziemlich versöhnliche Wesenszüge zu relativieren wusste: ihre Kumpelhaftigkeit und ihren Humor.
Die Akademie
Dennoch holte sie sich kompetente Unterstützung von einer, dies es selbst gewohnt war, den Ton anzugeben. Ein ums andere Mal kam die ehemalige Bolschoi-Ballerina und Ballettpädagogin Olga Lepeschinskaja angereist, ein liebenswürdiger Dragoner, der unter anderem mit einer der größten Nachwuchshoffnungen unter den Schülerinnen der ersten Stunde, Gigi Hyatt, die Giselle einstudierte. Lepeschinskaja, Trägerin des Stalinpreises undVolkskünstlerin der UdSSR, galt als politisch zuverlässig, weshalb man sie gerne ausreisen ließ. Darüber freilich wurde nie gesprochen. Ideologische Bedenken hatte Konstanze Vernon wahrscheinlich sowieso nicht, denn das Training selbst und ein romantisches Ballett wie ‚Giselle‘, das war ja politik-, und ja, auch weltfern.
Unter der Glasgolcke
Apolitisch sollten auch ihre Schützlinge sein, und so hielt sie gleichsam unter einer Glasglocke, fern von allen äußeren Einflüssen, die nichts mit Ballett zu tun hatten. Erst mit den Jahren begriff Konstanze Vernon, wie wichtig ein Mindestmaß an Universalbildung auch für den Tänzerberuf ist. Und schließlich wurde es den angehenden Tänzerinnen und Tänzern ermöglicht – so sie es mit dem täglichen Training vereinbaren konnten – die Mittlere Reife oder Abitur zu machen.
Der Ballettsaal
Vernons liebster Platz jedoch war ihr Drehstuhl im Ballettsaal, von dem sie ein ums andere Mal aufsprang, um eine Schulter oder ein Bein zu korrigieren oder eine Variation vorzumachen. Sie riss sie mit, die Mädchen und Jungen mit ihrem Temperament. Vernon, die kinderlos geblieben war, hatte als Leiterin der Ballettakademie nun Scharen von kleineren und größeren Kindern, die sie auf ihre Weise bemutterte – ähnlich wie sie einst von Tatjana Gsovsky bemuttert worden war.
Vor allen die Mädchen hatten auch äußerlich ihren strengen Maßstäben zu genügen. Wenn eine in der Pubertät einen großen Busen bekam, stand die weitere Karriere zur Disposition. Ein Tänzerinnenbild wie dieses ließe sich heute, in Zeiten vernünftiger Ernährungspläne und weniger rigiden Rollenfestlegungen nur noch schwerlich aufrecht erhalten. Da Konstanze Vernon selbst zeitlebens immer mit den Pfunden kämpfte – Ivan Liška zitiert sie mit ihrem Seufzer ‚Ich muss nur an einer Konditorei vorbei gehen und wiege schon ein Kilo mehr‘ -, hielt sie die Mädchen zu extremer Selbstkasteiung an. ‚Ich bin immer nur vom Hungern dünner geworden‘, sagte sie einmal. Ihre Ballettmädchen waren dünn, dünner am dünnsten.
Hunger, gepaart mit hartem körperlichem Training macht euphorisch. Und wenn man dann zu illustren Wettbewerben reist, nach Varna oder Lausanne und immerhin schon im Jahr 1980 mit einer Medaille heimfährt wie Claudia Jung oder wie die blutjunge Gigi Hyatt im Finale landet, dann hat sich jede Plackerei doch gelohnt.
Im selben Jahr hatte Vernon den 1. Bundesdeutschen Tänzerwettbewerb in München ausgerichtet mit einer internationalen Jury, wobei auch da ihre Schützlinge blendend abschnitten. Erfolg ist die beste Lobby, auch wenn die tollen Jungs immer noch nicht am Horizont winkten. Und dann gab’s auch noch die erste festliche Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung im Nationaltheater – ein Schmankerl für potenzielle Spender und gerührte Eltern, die ihre Sprösslinge beim öffentlichen Exercise und in richtigen Choreografien bewundern konnten. Konstanze Vernon moderierte und erklärte alles vor dem Vorhang – die ersten Male noch stockend und so aufgeregt, dass sie sich fast an ihrem Text verschluckte.
Die Achtzigerjahre waren für Konstanze Vernon und die ihren, aber nicht nur für sie eine unglaubliche Zeit des Aufbruchs. Auf der einen Seite formierte sich die freie Tanzszene – auch in München. Auf der anderen Seite arbeitete Vernon wie eine Berserkerin daran, mit dem Ballett zur Weltspitze aufzuschließen.
Das Bayerische Staatsballett
Und gleichzeitig baggerte sie schon an der nächsten Baustelle, fragte öffentlich danach, warum das Ballett eigentlich nur ein Anhängsel des Musiktheaters sein sollte mit Operndiensten und zwei Premieren an den chorfreien Abenden und maximal 40 Vorstellungen pro Spielzeit. Sie stritt für die Anerkennung des Balletts als gleichwertige Kunstsparte. Und wieder war ihr jedes Mittel recht. Sie antichambrierte bei Franz Josef Strauss, sprach bei Kultusminister Wild vor und reüssierte schließlich nach zähem Ringen. Auch weil sie einen seinerzeit sehr mächtigen Verbündeten hatte: Generalintendant August Everding. Everdings Coup richtete sich auch gegen seinen Intimfeind Wolfgang Sawallisch, von 1982 an dessen Nachfolger als Opernchef, der sich mit folgendem Spruch disqualifiziert: ,Ballett hat etwas mit Füßchen zu tun, da kenn ich mich nicht aus.‘
Bei derlei Kämpfen geht es nicht immer ganz sauber zu. Konstanze Vernon hatte den Ruf, notfalls mittels Intrige zum Ziel zu gelangen, was Everding mit dem schönen Satz quittierte: ‚Das ist mir egal. Hauptsache, sie intrigiert für mich.‘
1988 war die Sache ausgefochten. Fortan gab es ein – auch bald der Operndienste lediges – künstlerisch autarkes Bayerisches Staatsballett mit eigenem Etat und einer Ballettdirektorin namens Konstanze Vernon. Im selben Jahr konnte die Ballettakademie samt Bosl-Stiftung in die Wilhelmstraße 19 umziehen, wo anstelle eines alten Straßenbahndepots nun ein properes Ballettzentrum stand.
Konstanze Vernon konnte mit Fug und Recht behaupten, bereits nach zehn Jahren da angekommen zu sein, wovon sie geträumt hatte: Wie bei den ganz Großen, dem Bolschoi, dem Kirov, dem New York City Ballet oder dem American Ballet Theater und nicht zu vergessen dem Pariser Opernballett, waren etliche Absolventen aus der eigenen Schule, in diesem Fall der Ballettakademie, gut genug, das neue Staatsballett zu verstärken. In München päppelte sie ihre Lieblingszöglinge, den junge Oliver Wehe, einen Tadzio in Schläppchen, und Kiki Lammersen, eine Ballerina, der jungen Vernon wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber auch anderswo kamen die Akademie-Absolventen bestens an – eine Erfolgsgeschichte bis heute.
Damit war’s freilich nicht genug. Hinzu kam in der Akademie endlich wieder ein Studiengang für Ballettpädagogik. Fürs Staatsballett schlug die Prinzipalin rechtzeitig zu und sicherte sich am Platzl 7 einen noblen Altbau als Probenhaus. Da Konstanze Vernon auch als Ballettdirektorin immer noch am liebsten im Ballettsaal war, unterstützte sie fortan Bettina Wagner-Bergelt als Dramaturgin vor allem beim Aufbau des modernen Repertoires.
Der letzte Akt
1998 übergab Konstanze Veron die Direktion des Bayerischen Staatsballetts auf offener Bühne – auch dies einmalig in der Münchner Ballettgeschichte – nachdem sie als Larina in Kostüm und Maske mit ihm als Onegin getanzt hatte – an ihren Partner Ivan Liška. Den letzten Akt ihres beruflichen Lebens läutete sie nach ihrer Emeritierung als Professorin der Ballettakademie 2010 ein mit der Gründung der Junior Company als Kooperation von Hochschule für Musik und Theater München, Heinz-Bosl-Stiftung und Bayerischer Staatsoper. Im Dezember 2008 war bereits Fred Hoffmann gestorben. Er hinterließ eine Lücke, die durch nichts zu füllen war. Konstanze Vernon blickte von da an mit heiterer Gelassenheit dem Tod entgegen. ‚Wenn ich dem Tod begegne, werde ich eine Arabesque machen und in den Ballettsaal entschwinden‘, ließ sie einen Vertrauten wissen. Die reinste aller klassischen Posen hatte ihr Zeit ihres Lebens etwas ganz Besonderes bedeutet, nämlich ‚ein sehr intensives Gefühl meiner eigenen Existenz‘. Am 21.1.2013 ist Konstanze Vernon gestorben und hinterließ ein ehernes Fundament fürs Ballett, auf dem sich bis heute gut arbeiten lässt.