Backstage

Essay

Blick hinter die Kulissen: Vision einer künstlerischen Gesellschaft

von Deike Wilhelm

Die Entstehung einer neuen Ballett-Kreation ist ein geheimnisvoller Prozess, den Choreograf und Tänzer in der verborgenen Welt des Ballettstudios gemeinsam durchleben. In wochenlanger Arbeit entwickeln sie ein neues Stück, welches das Publikum bei der Premiere als fertiges „Produkt“ erlebt. Dieses ist die konzentrierte Form eines intensiven künstlerischen Prozesses hinter den Kulissen.

Suchen und Ausprobieren, Irren und Finden, Frustrationen und Freude als essentielle Momente des künstlerischen Weges bleiben dabei für den Zuschauer ein Geheimnis. Auch wenn die Arbeit im Ballettstudio häufig unter den gleichen Neonröhren wie an anderen Arbeitsplätzen stattfindet, so ist das, was in unzähligen Stunden hinter verschlossenen Türen geschieht, ein Arbeitsprozess, der niemals vorhersehbar, geschweige denn, wiederholbar ist. Dabei ist es möglicherweise gerade diese Instabilität und Offenheit als Grundprinzip, die den kreativen Prozess erst gedeihen und erblühen lässt. 

Die Vision, die Konstanze Vernon voller Weitsicht mit ihrem Konstanze Vernon Haus – Forum für Choreografie  und Ballett – für das Bayerische Junior Ballett auf den Weg brachte, setzt Ivan Liška heute in die Tat um: Er beauftragt regelmäßig geeignete Choreografen, mit den Tänzern neue Kreationen zu erarbeiten und setzt sich so für eine lebendige Ballett-Kultur in München ein. Während sich die Stiftung zu Gründungszeiten dafür verantwortlich fühlte, das Münchner Publikum über die Notwendigkeit einer professionellen Ballett-Ausbildung zu informieren, lädt Ivan Liška das Publikum heute dazu ein, noch tiefer in das künstlerische Schaffen einzutauchen. Hierfür engagierte die Heinz-Bosl-Stiftung den Kommunikationsmanager Terence Kohler, der die neue BACKSTAGE-Initiative konzipierte und damit den spannenden Kreationsprozess für das Publikum öffnen und Einblicke in die reiche Welt des künstlerischen Schaffens gewähren möchte. 

Die BACKSTAGE-Initiative sucht dabei eine sensible, fragende und beobachtende Annäherung an einen niemals standardisierbaren und oft mysteriösen Weg, auf den sich Choreograf und Tänzer begeben. Während zu Beginn einer neuen Kreation häufig die verbale Kommunikation zwischen den beteiligten Künstlern zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema und zum Austausch von Assoziationen eine wichtige Rolle spielt, zeichnet sich das fertige Kunstwerk im Tanz eben gerade dadurch aus, dass es ohne Worte auskommt. Und genau darin liegt die wahre Schönheit künstlerischen Schaffens: Im Raum der Möglichkeiten, der Andeutungen, des Vagen und Offenen jenseits des rationalen Verständnisses. Diesen Raum schon während der Entstehung betreten zu dürfen, ermöglicht dem Zuschauer eine intensivere Beziehung zu einer neuen Kreation. 

Mit der BACKSTAGE-Initiative setzt die Heinz-Bosl-Stiftung außerdem ein zentrales Ziel um: Junge Tänzer auf eine erfolgreiche berufliche Karriere vorzubereiten und ihnen zu ermöglichen, als Künstlerpersönlichkeiten zu wachsen. Die jungen Tänzer werden nämlich aufgefordert, über den künstlerischen Prozess wertfrei zu reflektieren und die eigenen Gedanken selbstbewusst auszudrücken. Sie entwickeln dadurch eine neue Perspektive, die den traditionellen Kategorisierungen von klassischem, neo-klassischem und zeitgenössischen Tanz übergeordnet ist. Diese Auflösung von traditionellen Paradigmen und Denkmustern ermöglicht es den jungen Tänzern, sich zu freien und bewussten Künstlern zu entfalten, welche universale menschliche Werte jenseits einschränkender Kategorisierungen in ihrem Tanz auszudrücken vermögen. Diese intellektuellen, emotionalen und geistigen Kompetenzen erlauben ihnen, sich fruchtbar in kreative Prozesse einzubringen und zugleich eine Tiefe im künstlerischen Ausdruck zu erlangen. 

Gleichzeitig ist die Heinz-Bosl-Stiftung davon überzeugt, dass die Öffnung der künstlerischen Arbeit jenseits traditioneller Kategorisierungen auch dem Zuschauer neue Erkenntnisse ermöglicht, die weit über die Möglichkeiten eines fertigen Kunstwerkes hinausgehen. Die Kenntnis über die Vielfalt des kreativen Entstehungsprozesses erweitert das Verständnis für künstlerisches Schaffen und gegenwärtige Kunst an sich. Dies ermöglicht ein neues Nachdenken und einen wertfreien Austausch über Tanz jenseits des persönlichen Geschmacks oder gewohnter Bewertungskategorien. Mit der BACKSTAGE-Initiative streben wir danach, dem Publikum eine Annäherung an die gegenwärtige Kunst und das künstlerische Schaffen an sich zu ermöglichen und so die Verbindung zwischen Publikum und Künstlern zu stärken. Denn, hätten wir keine Künstler, die sich mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft auseinandersetzen, gäbe es dann überhaupt eine Zukunft für die Kunst?   

Als erstes Projekt der neuen BACKSTAGE-Initiative wird der Entstehungsprozess von Peter Leungs neuer Kreation Individuell in einer mehrteiligen Web-Serie präsentiert, die einerseits den jungen Tänzern durch eine Reihe an Interviews die Möglichkeit gibt, über den kreativen Prozess zu reflektieren und eine eigene Stimme als Künstler zu finden. Gleichzeitig erlaubt dieser Einblick den Zuschauern, die choreografische Entwicklung bestimmter Teile nachzuvollziehen, die Entwicklung der Kostüme zu erleben und die Tänzer über ihre Erfahrungen sprechen zu hören.