Backstage

Interview

Choreografie ist keine Einbahnstraße: Ein Gespräch mit Jörg Mannes

von Deike Wilhelm

Jörg Mannes wurde in 1969 Wien geboren und war von 2006 bis 2019 Ballettdirektor und Chefchoreograf der Staatsoper Hannover. 38 Ballettkreationen sind in dieser Zeit entstanden – größtenteils abendfüllende Werke für bis zu 30 Tänzer. Das Haus war nahezu immer ausverkauft. Dem Münchner Publikum ist er bereits bekannt: 2007 choreografierte er «Der Sturm» und 2010 «Wohin er auch blickt» für das Bayerische Staatsballett. Das Gespräch fand Mitte März per Video-Anruf statt.

DW: Jörg, du choreografierst gerade mit dem Bayerischen Junior Ballett München (BJBM) «Unsterbliche Geliebte» zu Beethovens 4. Klavierkonzert. Du selbst stammst aus Wien und warst bis letztes Jahr Ballettdirektor am Staatstheater Hannover. Dort hast du dreizehn Jahre lang für ein ausverkauftes Haus gesorgt und viel für den Tanz bewegt. Wie begann deine Liebe zum Ballett? Wie kamst du darauf, Ballett-Tänzer zu werden?

JM: Das war ganz lustig. Ich hatte als Kind einen Haltungsschaden. Deshalb haben mich meine Eltern in eine Gymnastik geschickt, aber das mochte ich nicht. Daraufhin schickten sie mich in eine private Ballettschule. Aber ich war da auch nicht so glücklich, weil ich der einzige Junge war. Und als der Aufruf von der Ballettschule der Wiener Staatsoper kam, haben mich meine Eltern dort angemeldet. Das hat mir gefallen. Da war ich acht Jahre alt. Meine Eltern haben mich jede Woche gefragt: „Na, willst du’s noch machen?“ Und ich habe immer geantwortet: „Ja.“

DW: Was hat dich denn am Tanzen gefesselt? Was hast du am Tanzen geliebt?

JM: Das hat sich immer wieder verändert. Ganz am Anfang in der Ballettschule war es einfach toll, weil ich ein Kind war, das nicht still sitzen konnte. Mir haben die technischen Sachen Spaß gemacht. Ich wollte die Sprünge und Schritte meistern. Da hatte ich viel Ehrgeiz. Später hat mir dann das Partnering am meisten Spaß gemacht. Das hat sich auch in meine Choreografien hinüber gezogen: Das choreografiere ich am liebsten.

DW: Und hat sich dann für dich nie die Frage gestellt, ob du das auch beruflich machen möchtest?

JM: Nein, die Frage hat sich nicht gestellt. Irgendwann war das einfach klar. Das hat auch sehr gut funktioniert. Ich bin mit sechzehn schon in der Company in Wien engagiert worden. Das war ein ziemlich sicheres Verhältnis, wir waren ja sogar Beamte. Mir ging’s da sehr gut. Und drei Jahre, nachdem ich in der Company war, kam Nurejew und hat mir ein Stipendium für Paris angeboten. Ich war ein halbes Jahr dort und habe an der Pariser Oper Unterricht bekommen. Das war sehr beeindruckend.

DW: Rudolf Nurejew war damals Direktor des Pariser Opernballetts. Wie war das damals für dich in Paris? Hat Nurejew auch persönlich mit dir gearbeitet?

JM: Ja, ich habe in Paris anfangs mit der Company trainiert, doch dann hat Nurejew zu mir gesagt: „Ich möchte, dass du zwei Trainings hintereinander machst.“ Ich habe daraufhin sowohl in der Company als auch in der Schule trainiert. Manche der Trainings hat er geleitet und mir dazwischen auch noch Korrekturen gegeben. Das war sehr heftig. Es war eine verrückte Zeit. Ich habe da sehr, sehr viel gelernt. Es war genau die Zeit, als William Forsythe für die Company das Stück «In the Middle, Somewhat Elevated» choreografiert hat. Und das hat den ganzen Stil der Company komplett verändert. Ich werde nie vergessen, wie ich an der Stange stand und vor mir so eine komische Schwarzgekleidete mit einem Pagen-Schnitt trainierte. Ich dachte mir nur: „Oh Gott, was macht die da?“ So, wie die sich bewegt haben, kam mir das vor wie Aliens. Erst später erkannte ich dann die Bedeutung davon: Es war eine unglaubliche Ehre, hinter Sylvie Guillem trainiert zu haben. Das war eben etwas ganz Neues damals. Sehr faszinierend.

DW: Und nach diesem verrückten halben Jahr in Paris bist du wieder zurück nach Wien?

JM: Ja. Und dann kam irgendwann Heinz Spoerli für eine Pulcinella-Produktion nach Wien. Ich war zweite Besetzung und musste einspringen. Das lief sehr gut. Einige Zeit später hat Spoerli mich angerufen und erzählt, dass er Düsseldorf übernehmen werde und gefragt, ob ich zu ihm kommen wolle. So bin ich als Solist nach Düsseldorf gegangen, obwohl es damals sehr unüblich war, als Tänzer aus Wien wegzugehen.

DW: Du warst fünf Jahre bei Heinz Spoerli in der Company und weitere zwei Jahre mit Youri Vámos. In jenen Jahren hast du vom Tanz zur Choreografie gewechselt. Wie kam es dazu?

JM: Das war ein Zufall. Heinz Spoerli hat damals einen Choreografie-Workshop angeboten und ich habe mich angemeldet. Nicht, weil ich Choreograf werden wollte, sondern weil ich das alles mal von der anderen Seite erleben wollte. Während des Workshops habe ich ein Pas de deux auf ein Mozart-Adagio choreografiert. Ein international sehr erfolgreiches Paar aus unserer Company, Vadim Pisarev und Inna Dorofeeva, hat mich danach gebeten, mit ihnen dieses Pas de deux für die „Gala des Étoiles“ in Montréal einzustudieren. Wir mussten dem Veranstalter ein Video davon schicken, weil ich ja noch ein ganz unbekannter Choreograf war. Daraufhin stellte sich heraus, dass ein anderer Tänzer – Vladimir Malakhov – dieselbe Musik schon verwenden würde. So habe ich einfach ein neues Pas de deux für die beiden choreografiert. Und da wir noch ein bisschen Zeit hatten, habe ich mit diesem Paar mehrere Pas de deux für verschiedene Galas kreiert, die sie dann überall auf der Welt verteilt haben. Und dadurch wurde mein Name auch bekannter. Das führte dazu, dass ich nach Indianapolis und ans Bolschoi-Theater eingeladen wurde, um dort Stücke zu choreografieren.

DW: Du hast dann irgendwann das Tanzen aufgegeben, um ausschließlich zu choreografieren. Was hat dich denn am Choreografieren so sehr fasziniert, dass du diese Entscheidung getroffen hast?

JM: Ich war als Tänzer ein sehr schüchterner Typ und mir war es vielleicht fast lieber, hinter der Bühne zu stehen als auf der Bühne. Die Rampensau war ich nie. Eher zurückhaltend. Und vielleicht hat mir das Choreografieren mehr gelegen als das Tanzen. Eher das im Hintergrund stehen und gar nicht so sehr sich selbst zu produzieren. Und das Choreografieren hat sich schön entwickelt. Erst kreierte ich das Pas de deux, dann kamen kleinere Stücke. Die Produktion in Indianapolis war dann schon größer. Nach meiner Zeit in Düsseldorf habe ich zwei Jahre als freischaffender Choreograf gearbeitet und viel gastiert, bis ich mich als Ballettdirektor beworben habe. Ich habe einfach einen Brief an alle Intendanten in ganz Deutschland geschrieben.

DW: Einfach so? Initiativ?

JM: Ja. Ich hatte damals sogar zwei Angebote und habe das Angebot aus Bremerhaven angenommen, weil ich die Aufnahmeprozedur so toll fand. Der Intendant war super: Er hatte alle Choreografen eingeladen, eine Stunde Training und eine Stunde Probe zu geben. Alle gleich. Und daraufhin hat die Company entschieden, wen sie wollten. Und sie haben mich genommen. Das war sehr schön, weil es eben keine feindliche Übernahme war, denn ich war ja von ihnen ausgewählt worden. Dort blieb ich vier Jahre. Das war eine ganz kleine Company, nur neun Tänzer.

DW: Und da hast du dann auch selbst choreografiert?

JM: Ja, da macht man dann alles. Gemeinsam mit meiner Frau, die gleichzeitig noch getanzt hat und meine Assistentin war. Wir waren Presse, machten Plakatentwürfe und beantworteten das Telefon. Da hat man sonst niemanden. Das war schon spannend. Aber es ist eigentlich gut, so von klein auf in alles involviert zu sein. Von Anfang an. Das hat sehr viel Spaß gemacht, aber wenn ich mir jetzt die Tagespläne von damals anschaue, dann frage ich mich schon, wie ich das gemacht habe.

DW: Von dort ging es weiter nach Linz…

JM: Ja, und diese Zeit war etwas speziell. Da war ich nur zwei Jahre, denn als ich in Linz angefangen habe, war klar, dass der Intendant Michael Klügl mich zwei Jahre später nach Hannover mitnehmen wollte. Das war eine komische Übergangssituation, die ich auch in dem Ballett-Stück «Fremd bin ich eingezogen…» verarbeitet habe. Es war ein Schubert-Abend und wenn man die Lieder von Schubert kennt, weiß man, dass der Liedtext weiter geht mit: „… fremd zieh ich wieder aus.“ Und die Österreicher verstanden das natürlich. Zwei Jahre später wurde ich Ballettdirektor in Hannover. Das war dann schon eine ganz andere Geschichte als in Linz und Bremerhaven. Einfach vom Umfang her. Es waren dreißig Tänzer in der Company. Dort haben wir in den dreizehn Jahren sehr viel aufgebaut. Abgesehen von den normalen Premieren konnten wir sehr viel ausprobieren. Wir machten Jugendprojekte, wir haben den Tanzkongress ausgerichtet und dann die Ostertanztage entwickelt. Das Festival ist unglaublich gewachsen. Das war eine sehr aktive, intensive und produktive Zeit.

DW: Wenn du auf deine Choreografien blickst, gibt es da einen roten Faden? Sind es bestimmte Themen, eine Ästhetik oder Bewegungsformen?

JM: Wenn ich so zurückschaue, haben sich meine Choreografien schon sehr verändert und sich mit den Tänzern und den Möglichkeiten entwickelt. Ein roter Faden war deshalb eher eine Produktion. Diese war auch der Grund, warum ich überhaupt Direktor werden wollte. Ich hatte den Film „Gefährliche Liebschaften“ von Stephen Frears gesehen und daraufhin den Roman gelesen. Und ich wusste, dass ich das choreografieren muss. Aber mir war klar, dass ich das als Gast nicht verwirklich können würde. Das Stück habe ich dann tatsächlich in Bremerhaven choreografiert, später in Linz überarbeitet und als Gast in Karlsruhe nochmals verändert. In Hannover ist dann eine komplett neue Version entstanden, die mit der alten nichts mehr zu tun hatte. Alles war neu: Musik, Kostüme, Choreografie. Das war ein Wunsch von mir. Das war mein Thema. Es ist ein sehr komplexes und intensives Stück geworden. Und das war sehr gut als Entwicklung.

DW: Du giltst als leidenschaftlicher Erzähler. Schöpfst du deine Inspiration vor allem aus Themen und ist die Handlung für dich besonders wichtig?

JM: Themen interessieren mich sehr, weil ich es nicht als Ziel sehe, Schritte zu entwerfen, sondern das eigentliche Ziel ist es, das Publikum zu berühren, mitzureißen, ihnen ein Gefühl mitzugeben. Das ist natürlich mit einer Handlung viel intensiver und besser. In einem abstrakten Stück geht das schon auch, mit anderen Mitteln, aber mich hat das Erzählen immer fasziniert. Und auch viel Spaß gemacht. Weil man einen Handlungsbogen aufbauen und wieder brechen kann. Man kann sich auch viel mehr erlauben als in anderen Stücken. Wir hatten in Hannover ein sehr gemischtes Publikum und was die teilweise an Musik „geschluckt“ haben, wäre in einem anderen Rahmen vielleicht gar nicht so gegangen. In „Besuch der alten Dame“ habe ich zum Beispiel sehr viele Stücke von Nine Inch Nails verwendet und das Publikum war begeistert. Auch das ältere. Und in der neuen Version von «Gefährliche Liebschaften» habe ich neue – extra in Auftrag gegebene – Musik von Mark Polscher, einem Stockhausen-Schüler, mit Alter Musik von Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel vermischt und eben sinnvoll verarbeitet. So funktioniert das gut. Das hat mir immer Spaß gemacht. Aber reine Musikabende haben wir auch kreiert.

DW: Waren das dann tatsächlich reine Musikabende oder hast du da auch wieder eine Handlung entworfen?

JM: Meine Ansicht ist ja, dass man schon eine Handlung hat, sobald man einen Tänzer überhaupt auf die Bühne stellt. Weil ein Tänzer immer mit seiner ganzen Biografie auf der Bühne steht. Wenn man ihn nackt lässt – ohne ihm eine Rolle zu geben, die er darstellt –, dann stellt er sich selbst dar. Und so ist die Geschichte dieses Menschen immer auch in irgendeiner Form auf der Bühne. Insofern gibt es abstraktes Ballett nicht. Und selbst im abstrakten Ballett versucht man, alles in eine Struktur zu fassen, nicht in Handlungslinien, aber doch Themen aufzubauen und diese zu zerstören. Oder parallel etwas aufzubauen und dann eine Verbindung herzustellen oder etwas zu zerschlagen. Also arbeitet man eigentlich ähnlich. Auch in der abstrakten Welt. Es ist in einer gewissen Art und Weise umgekehrt, aber man erzählt automatisch etwas. Man kann nicht nichts erzählen auf der Bühne.

DW: Und woher kommen bei dir die Inspirationen?

JM: Das ist jedes Mal anders. Wenn es jedes Mal gleich wäre, dann wäre ich weniger gestresst. Das ist das Spannende. Manchmal hört man Musik, ist fasziniert von ihr und dann entwickeln sich Ideen oder Assoziationen aus der Musik heraus. Oder man sucht sich auch eine Assoziation. Manchmal sind es Geschichten oder Themen, die mich inspirieren. Man ist in jedem Fall permanent auf der Suche.

DW: Du bist dem Münchner Publikum bereits bekannt. Nun choreografierst du für die jungen Tänzer des Bayerischen Junior Balletts München, die ganz am Anfang ihrer Karriere stehen. Wie ist das für dich? Hast du das schon öfter gemacht oder ist das etwas Neues?

JM: Das ist zum ersten Mal, dass ich mit einer so jungen Company arbeite. Aber das sind eigentlich fertige Tänzer. Und sie haben auch schon sehr viel Erfahrung in den unterschiedlichen Dingen. Was ich so schön bei ganz jungen Tänzern finde, ist, dass sie auf der einen Seite technisch sehr gut sind und auf der anderen Seite noch sehr viel von ihnen selbst in allem drin steckt. Dass sie Dinge schon perfekt umsetzen, aber noch nicht solch eine Routine haben, sich selbst zu verstecken. Was man irgendwann tun muss. Man nimmt immer eine Art von Rolle ein – auch im Leben.

DW: Wie hast du mit den jungen Tänzern angefangen zu arbeiten?

JM: Ich habe mehrere Themen angelegt. Ich habe viel ausprobiert. Isoliertes Sich-selbst-Darstellen als Bewegungsfolgen. Und Partnering habe ich ausprobiert, weil das nicht so selbstverständlich gefordert werden kann. Die meisten Tänzer kommen zum Partnering nämlich erst, wenn sie bereits in den Companies sind. In der Ausbildung ist dieser Unterricht immer sehr schwierig, weil die körperliche Entwicklung von Männern und Frauen unterschiedlich ist. Doch das Gute ist, dass das BJBM schon viel Repertoire hat, in dem sie sehr viel Partnering tanzen und die Tänzerinnen und Tänzer somit schon reichlich Erfahrung gesammelt haben. Das war sehr beruhigend für mich, weil das etwas ist, was mir sehr am Herzen liegt. Und ich bin da nicht auf große Hindernisse gestoßen.

DW: Gibst du den Tänzern Bewegungen vor? Oder machst du Workshops, in denen sie komplett aus sich selbst heraus schöpfen?

JM: Bis jetzt habe ich eher vorgegeben und dann Dinge aufgegriffen von dem, was sie anbieten. Und es kommt automatisch von den Tänzern sehr viel hinein. Mir gefällt der Dialog. Und das ist eigentlich immer das Faszinierende beim Choreografieren. Das ist nie eine Einbahnstraße. Denn das, was ich denke, ist eine Sache. Was ich dann vorzeige, durch meine körperlichen Möglichkeiten, ist etwas anderes. Was der Tänzer sieht, ist nochmals etwas anderes. Und was er dann umsetzt, mit seiner körperlichen Möglichkeit, ist wieder etwas anderes. Und genau da entstehen die eigentlich schönen Dinge.

Flüsterpost…

Es ist genau das. Es ist wie die „Stille Post“. Am Ende kommt etwas ganz anderes heraus und das ist das eigentlich Schöne und Interessante. Man fängt beim Choreografieren an, auf die Tänzer zu hören und zu sehen, was von ihnen kommt. Ich habe es als Choreograf immer als meine Aufgabe gesehen, Tänzer so gut wie möglich zu präsentieren, und da passt man sich eben auch den Tänzern an. Und probiert für sie, das Maximale herauszukitzeln.