Backstage

Essay

Die Entstehung einer neuen Kreation. Eine Reise.

von Deike Wilhelm

Als Peter Leung im Januar diesen Jahres nach München kam, um mit dem Bayerischen Junior Ballett München ein neues Stück aus dem Nichts zu kreieren, ahnten die jungen Tänzerinnen und Tänzern wohl kaum, dass es eine Reise werden würde, die sie in ihrem ganzen Wesen fordern sollte. Eine Reise, die sie an ihre Grenzen und darüber hinaus führen würde.

Der junge Choreograf aus England überraschte die Company gleich zu Anfang, denn er begann den Kreations-Prozess mit Improvisationsübungen, die scheinbar nichts mit dem neuen Stück zu tun hatten. Dies gehört zu dem, was die jungen Künstler erfahren durften: Kunst entsteht oft nicht auf direktem Weg, sondern entwickelt sich häufig aus einem Prozess des Suchens und Ausprobierens. Kunst braucht eine Atmosphäre von Freiheit und Vertrauen, um wachsen, gedeihen und schließlich erblühen zu können. Kreativität erfordert Raum und Zeit. Und Mut. Um neue Wege zu gehen. „Break the habit – brich mit der Gewohnheit,“ fordert Peter Leung immer und immer wieder. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer sollen sich lösen von vertrauten Bewegungsmustern und stattdessen neue Wege gehen. Sie sollen sich inspirieren lassen von den Bewegungen der Kollegen, vor allem aber auch von ihrem eigenen Körper. Er gibt ihnen Aufgaben und setzt zugleich Grenzen, die sie entdecken lassen, welch ungeahnte Möglichkeiten noch in ihnen stecken. Eben gerade jenseits des Bekannten und Vertrauten. Peter Leung fordert die jungen Tänzer heraus, will sie als Individuen kennenlernen und erleben. Er bestärkt sie in ihrer Einzigartigkeit, denn genau darum geht es in seiner neuen Kreation «Individuell». Es ist ein Prozess, der nicht allen immer leicht fällt, verlangt er den jungen Menschen doch Offenheit, Mut und Selbstvertrauen ab.

Als ich das Studio Ende Februar betrete, ist der Prozess schon weit fortgeschritten. Es herrscht eine lockere, konzentrierte Arbeitsstimmung. Kleine Grüppchen probieren selbständig eine Bewegungsfolge. Ein Tänzer arbeitet mit Peter an einer bestimmten Schrittkombination. Zwei Tänzer lassen sich von einem Kollegen bei Drehungen helfen. Eigenständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit strahlen mir entgegen. Nach einiger Zeit beendet Peter diese Workshop-Phase und lässt das Ensemble den ersten Teil von «Individuell» wiederholen. Zunächst ohne Musik. Manches muss noch festgelegt, die Bewegungen mit der Musik synchronisiert werden. Dann bittet Peter um Vorschläge – die Gruppe soll in wenigen Schritten zu einer Kollegin aufschließen. Zwei Tänzerinnen reagieren sofort – als hätten sie die Frage schon vorausgeahnt. Peter entscheidet sich zügig für eine der beiden Varianten und lässt sie vom gesamten Ensemble unisono tanzen. Er feilt noch an diesem oder jenen Solopart, entfernt Überflüssiges. Dann tanzt die Gruppe den ersten Teil ohne Unterbrechung auf Musik. Der Prozess ist schon weit – ich erkenne eine Geschichte, die vom Strahlen derjenigen Menschen erzählt, die ihren eigenen Weg gehen, die ihre Persönlichkeit und Individualität entdecken und leben. Ich bemerke äußerst ungewöhnliche Bewegungen und bin berührt von dem, was ich sehe. Peter lässt die Tänzer kurz ausruhen, dann greift er wieder einzelne Stellen auf. Erinnert sie daran, dass es um das Thema Individualität geht. Arbeitet am künstlerischen Ausdruck. Der kurze Ausbruch der einzelnen Tänzer aus der Gruppe soll Lebendigkeit ausstrahlen, bevor sie dann wieder – zurück in der Gruppe – einen indifferenten Ausdruck annehmen. 

„The piece is like my personal story – das Stück ist wie mein eigenes Leben,“ erzählt Seyhun An aus Korea. Als sie vor zwei Jahren aus ihrem Heimatland nach München kam, war sie verschlossen, technisch zwar sehr gut, aber – wie sie sich selbst beschreibt – eine langweilige Tänzerin. Ohne Ausdruck von Persönlichkeit. Die Bedeutung von Individualität für den künstlerischen Ausdruck hat sie in den zwei Jahren mit der Company gelernt. Aus ihr ist eine blühende junge Frau geworden, deren Tanz an Lebendigkeit ungemein gewonnen hat. Heute ist sie der Meinung, dass gerade das Entdecken und Ausdrücken von Individualität das ist, was Ballett so lebendig und künstlerisch wertvoll macht. 

Peter Leung hat einen Raum geschaffen, der Kreativität und Individualität zulässt. Einen Raum, in dem sich die jungen Tänzerinnen und Tänzer wohl fühlen, in dem auch die Stillen Mut finden, sich auszudrücken, nachzufragen, vorzuschlagen oder Zweifel zu äußern. Kreativität ist fragil und deshalb äußerst schützenswert. Ganz besonders, wenn es sich um junge Künstler handelt, die noch Vertrauen in das gewinnen müssen, was an Einzigartigkeit in ihnen steckt. Die Tänzer haben hier ganz offensichtlich Vertrauen und öffnen sich. Als ich sie nach ihren Erfahrungen frage, erzählen alle unabhängig voneinander von einem ganz bestimmten Moment des Kreations-Prozesses. Und ihre Augen leuchten dabei. Gemeinsam erlebten sie einen Moment purer Inspiration, ein Zustand vollkommener Hingabe und Offenheit, in dem Neues entstehen konnte. Eine Erfahrung, die durch das ganze Stück wirken wird: „It was like a fountain of creativity – es war wie ein Brunnen der Kreativität,“  beschreibt Severin Brunhuber das, was sein Kollege Armando Arens als den „goldenen Moment“ bezeichnet. Andere Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Ballett München sprechen von der gleichen Erfahrung als „the state,“ also dem ‚Zustand’ und von „Zen – der Versenkung“. Mehrmals fallen die Begriffe „Meditation“ und „Trance“. Alle versuchen, mit diesen Worten einen Schlüsselmoment des Kreations-Prozesses zu beschreiben. Was war so besonders an dieser Erfahrung? 

Während einer Improvisationsübung konnten die Tänzer Bewegungsfolgen übernehmen, mussten dies aber nicht. Sie konnten Neues anbieten oder auch nicht. Das Besondere dabei war, so berichten die Tänzer, dass ein wertfreier Raum entstand, in dem kein Platz für Erwartungen oder Beurteilungen war. Alle fühlten sich frei. Ohne Druck. „In einer Gruppe gibt es immer einige, die die Führung übernehmen und andere, die eher zurückhaltend sind,“ meint Armando Arens und erzählt dann, dass in diesem „goldenen Moment“ plötzlich auch die Introvertierten die Führung übernahmen. Dies überraschte nicht nur die Gruppe, sondern vor allem auch die jeweilige Person selbst. „Und wir folgten ihnen. Sehr gerne sogar,“ verrät Armando. Bewegungen entstehen ganz frei, kommen einfach, dürfen sein. Zeit steht still oder vergeht, es hat keine Bedeutung, es gibt nur das Hier und Jetzt. Lotte James erzählt, wie sie alle tief beeindruckt, ja fast geschockt waren von dem, was mit ihnen passierte. Jenseits des Vertrauten erlebten sie eine unglaublich starke Kraft: Es ist die eigene Schöpferkraft, die sie zum Leben erweckt haben. Was für ein Glück für die jungen Künstler, dies zu erleben. 

Die daraus entstandenen Bewegungen inspirierten Peter Leung nicht nur, sondern er übernahm diese teilweise sogar eins zu eins. Diese Schritte werden mit besonderer Hingabe getanzt, sind es doch die eigenen, mit denen die jungen Tänzer eine ganz konkrete Erfahrung verbinden. Nikita Voronin erzählt, wie sehr sie sich verantwortlich fühlen für „ihr“ Stück, wie sie gemeinsam über Schrittfolgen nachgedacht, gesprochen und diskutiert haben. Peter Leung vermittelte ihnen ein Gefühl von Freiraum, Bedeutung und Wertschätzung. So empfinden die Tänzer eine tiefe Verbindung zu dieser neuen Kreation. Ihrer Kreation. Eine Verbindung, die sicherlich auch das Publikum spüren wird. «Individuell» ist eine Choreographie, die sie gemeinsam erschaffen haben. Ein Stück, das jeden in seiner persönlichen Einzigartigkeit zeigt. Die Entstehung war eine Reise, die die jungen Tänzer durch Höhen und Tiefen geführt hat. Bis an die eigenen Grenzen. Und weit darüber hinaus. Eine Reise, die immer wieder aufs Neue Vertrauen einfordert. Vertrauen darin, dass bis zur Premiere ein Stück entstanden sein wird, das berührt und etwas erzählt. Eine Reise, die aber auch Vertrauen in sich selbst einfordert. Selbstvertrauen. Vertrauen darin, dass hinter den Ängsten und Grenzen neue Freiräume zu entdecken sind. Und das Vertrauen in den Reichtum der eigenen Persönlichkeit – ein Reichtum für jeden einzelnen, für die Kunst und die Gesellschaft. Davon erzählt ihr Stück.