Backstage

Interview

Gemeinsam ein Kunstwerk erschaffen – Ivan Liška und Allan Bergius im Gespräch

von Deike Wilhelm

Zum vierzigjährigen Jubiläum der Heinz-Bosl-Stiftung fand im Jahr 2018 die erste Zusammenarbeit zwischen dem Bayerischen Junior Ballett München und dem Jugendorchester ATTACCA statt. Zur Frühlings-Matineen 2022 begleitet ATTACCA mit »Appalachian Spring« von Aaron Copland das Bayerische Junior Ballett München zum zweiten Mal.

ATTACCA wurde 2007 als eigenständiges Jugendprojekt des Bayerischen Staatsorchesters mit dem Ziel gegründet, jungen Musikerinnen und Musikern Einblicke und Erfahrungen in die Arbeit eines Opernorchesters zu ermöglichen. Allan Bergius, stellvertretender Solocellist des Staatsorchesters und ausgebildeter Dirigent mit mehrjähriger Berufserfahrung, leitet das Orchester aus Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren seit dessen Gründung. 

DW: Herr Liška, erzählen Sie doch bitte, wie es zur Zusammenarbeit zwischen dem Bayerischen Junior Ballett München und dem ATTACCA Jugendorchester kam.

Ivan Liška: Im Theater sind – wie in der Politik – die „Couloir-Gespräche“ wichtig: Man trifft sich zufällig auf dem Gang, und dabei entstehen die besten Ideen. Herr Bergius sprach mich dort an und schlug eine Zusammenarbeit vor. Gleichzeitig lag es aber auch auf der Hand, dass sich die drei existierenden Jugend-Vereinigungen der Staatsoper – das Bayerische Junior Ballett München, ATTACCA und das Opernstudio – irgendwann einmal zusammentun. Das erste Mal haben wir anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Heinz-Bosl-Stiftung mit ATTACCA zusammengearbeitet. Ich schätze sehr, dass Herr Bergius so flexibel und offen für Vorschläge ist.

DW: Herr Bergius, wie kamen Sie auf diese Idee?

Allan Bergius: Es ist mir wichtig, dass ATTACCA von der Verbindung zur Staatsoper profitiert und sowohl die Möglichkeit hat, mit Sängerinnen und Sängern als auch mit dem Ballett zu arbeiten. Da ich als Jugendlicher selbst sieben Jahre lang Ballett-Unterricht hatte und für kurze Zeit auch in der Ballett-Akademie war, schien mir eine Zusammenarbeit zwischen ATTACCA und dem Bayerischen Junior Ballett München für alle Beteiligten eine wunderbare Gelegenheit, Tanz und Musik zu verbinden. Für das Orchester ist es ein Erlebnis und etwas ganz Besonderes, im Orchestergraben der Staatsoper spielen zu dürfen.

DW: Was ist das Besondere an Ihrem Orchester?

Allan Bergius: ATTACCA ist insofern besonders, als die Mitglieder eine große Spannbreite sowohl vom Alter als auch vom technischen Können haben. Es ist mir aber sehr wichtig, auch den jüngeren Spielerinnen und Spielern die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen zu sammeln, auch wenn die Orchesterwerke teilweise eine große Herausforderung für sie sind. Außerdem ist es immer wieder schön zu sehen (und zu hören), wie schnell die Jugendlichen an diesen musikalischen Herausforderungen wachsen und dadurch auf ihren Instrumenten große Fortschritte machen. Eine Geigerin war zum Beispiel dabei, die in der 2. Geige anfing und innerhalb von wenigen Jahren so viel dazulernte, dass ich sie als Konzertmeisterin einsetzten konnte. 

DW: Herr Liška, wo liegt für Sie das Besondere an ATTACCA?

Ivan Liška: Dabei zu sein. Die Proben für «Peter und der Wolf» waren für mich ein Augenöffner: Zu sehen, wie ein Zwölfjähriger an seinem Vibrato arbeitet. Wie gewissenhaft, wie ernsthaft. Und das mit einer so großen Freude. Oder wenn ein Zehnjähriger besser Schlagzeug übt als ein Achtzehnjähriger… Es war so eine Freude, bei der Probe zu beobachten, wie diese jungen Menschen lernen, gemeinsam die Musik zu entdecken. Ich bin auch beeindruckt von der hohen Erwartung, die die jungen Musiker an sich selber haben: das Streben danach, die beste Musik zu machen, die sie machen können und dabei auch unseren Erwartungen als Ballett-Ensemble zu genügen. Es kann natürlich sein, dass manche Tempi anders werden als es die Tänzerinnen und Tänzer gewohnt sind. Aber eigentlich lief es 2018 so, wie wir beide – Herr Bergius und ich – es uns vorgestellt haben.

DW: Herr Liška, warum ist die Zusammenarbeit mit einem Orchester auch für die Tänzer wichtig? Welche Chancen sehen Sie darin?

Ivan Liška: Wir hatten eigentlich erwartet, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt, die das wahre Leben im Theater widerspiegelt. Das ist nicht eingetreten, weil wir mit Allan Bergius und seinem Orchester so gut koordiniert sind, dass es bisher zu keinen Widersprüchen gekommen ist. Insbesondere, was die Tempi betrifft. Dabei haben wir kaum Zeit für gemeinsame Proben. Während man sonst bei Premieren ungefähr fünf Bühnenorchesterproben hat, haben wir mit ATTACCA meistens eine, höchstens zwei Proben mit dem Orchester. So wird von dem Bayerischen Junior Ballett München eine große Flexibilität erwartet, ein Sich-Hineinhören, und sie müssen – anders als sonst, wenn die Choreografen sehr viel Wert auf die Details legen – sich vor allem am groben Rahmen orientieren. Ich glaube, wenn man die Tänzer im Voraus genügend auf alle Eventualitäten hinweist, haben sie auch sehr viel Verständnis dafür, dass wir vielleicht ein anderes Ergebnis haben, als wenn wir fünf Orchesterproben gehabt hätten. Die jungen Leute lernen so auch, mit dieser Geschwindigkeit umzugehen. Gleichzeitig noch behütet von den Akademien. Insgesamt ist es eine großartige Gelegenheit, dass junge Leute zusammen miteinander ein Kunstwerk erschaffen und präsentieren. 

DW: Herr Bergius, während Herr Liška täglich mit jungen Profis arbeitet, ist ATTACCA ein Laien-Orchester. Wie arbeiten Sie mit den jungen Musikern? 

Allan Bergius: Wir proben während der Schulzeit jeden Samstag und haben normalerweise zwei größere Projekte im Jahr – eines im Dezember und eines während der Festspiele. Momentan haben wir 90 Mitglieder im Orchester und können somit auch groß besetzte Werke aufführen. Bei Bedarf gibt es Proben mit einzelnen Stimmgruppen. Hierbei unterstützen mich Kolleginnen und Kollegen aus dem Staatsorchester, die sich um „ihre“ Instrumentengruppen kümmern.
Am Anfang eines Projektes spiele ich mit dem Orchester immer erst einmal das jeweilige Programm komplett durch, um den Jugendlichen einen Eindruck zu geben, was da auf sie zukommt. Dann müssen wir uns natürlich mit viel Geduld um die vielen wichtigen Einzelheiten der Partitur kümmern (Rhythmus, Dynamik, Zusammenspiel, Intonation…), genau wie bei einem Profiorchester. Über all dem steht für mich aber immer der musikalische Ausdruck, die Stimmungen, Gefühle, die in der Musik stecken und die sie lebendig macht. Dabei trägt eine bildliche Sprache wesentlich mehr zu einem guten Gelingen bei, als die musikalischen Hürden immer nur von der technischen Seite zu beleuchten.

DW: Was bedeutet die Zusammenarbeit mit dem Ballett für die jungen Musiker?

Allan Bergius: Das Orchester bekommt vom Ballett leider recht wenig mit, da es sich auf die Musik konzentrieren muss und das Ballett vom Orchestergraben aus kaum zu sehen ist. Trotzdem erleben die jungen Musikerinnen und Musiker, wie es ist, ein wichtiger Bestandteil einer Aufführung in der Staatsoper zu sein; sie sind sich ihrer Verantwortung gegenüber dem Ballett bewusst. Das ist für das Orchester wirklich etwas ganz Besonderes, da die meisten so eine Zusammenarbeit noch nicht erlebt haben!

DW: Wie anspruchsvoll ist es musikalisch, Tänzer bei Ihrem Auftritt zu begleiten?

Allan Bergius: Ballett zu begleiten, ist äußerst anspruchsvoll. Ich erkläre dem Orchester vorher, dass das Ballett von uns abhängig ist und dass es unsere Aufgabe ist, das richtige Tempo und die passende Atmosphäre zu liefern. Wir können nicht einfach spielen, wie wir gerade wollen. Die Tänzer studieren ihre Choreografie zu einer Aufnahme oder mit einem Pianisten ein, der das Stück immer passend zur Choreografie spielt. Es ist meine Verantwortung, das Werk so einzustudieren, dass das Ergebnis der einstudierten Choreografie entspricht. Zur Vorbereitung gehört auch, dass ich mich mit dem Choreografen treffe, um musikalisch auf einen Nenner zu kommen. Der Copland, den wir dieses Mal spielen, ist tatsächlich eine große Herausforderung für alle, da die Rhythmik und die vielen Taktwechsel sehr komplex sind. Das ist für die meisten Jugendlichen Neuland. Aber ich habe schon jetzt nach ein paar Proben das Gefühl, dass ihnen das wahnsinnig Spaß macht.

DW: Herr Liška, welche Besonderheiten sehen Sie bei diesem Stück – »Appalachian Spring« von Aaron Copland?

Ivan Liška: Bei dieser Produktion haben wir festgestellt, dass wir mit zwei unterschiedlichen Versionen von „Appalachian Spring“ arbeiten. Aaron Copland hat das Stück zunächst für Kammerorchester geschrieben – mit dieser Version haben die Tänzer gearbeitet. Herr Bergius hingegen wird bei der Matinee die spätere Version des Stückes spielen, die für ein komplettes symphonisches Orchester arrangiert wurde. So können mehr ATTACCA-Mitglieder mitmachen. Dadurch ergeben sich in der Musik natürlich für uns Tänzer und für den Choreografen andere Gewichtungen. Die große Version klingt etwas robuster. Es ist aber immer noch der gleiche Komponist mit dem gleichen Stück. Wir werden beide Versionen tanzen: Bei der Matinee mit großem Orchester und auf Gastspiel die Aufnahme mit Kammerorchester.

DW: Herr Bergius, was haben die jungen Musikerinnen und Musiker von ATTACCA, die ja nicht notwendigerweise eine Profi-Karriere anstreben, von dieser Erfahrung? 

Allan Bergius: Die jungen Musikerinnen und Musiker lernen und erleben vieles als Mitglieder von ATTACCA. Natürlich steht das gemeinsame Musizieren von verschiedenen Werken unterschiedlichster Epochen und Gattungen im Vordergrund. Ganz wichtig sind der Spaß und die Freundschaften, die durch die Zusammenarbeit im Orchester entstehen. Darüber hinaus lernen die Jugendlichen selbstbewusstes Auftreten auch vor großem Publikum, sowie eine Proben-Disziplin, die für ein gutes Gelingen anspruchsvoller Werke nötige ist. Diese Erfahrungen kommen allen jungen Musikerinnen und Musikern zu Gute, egal ob sie später Berufsmusiker werden oder nicht. Diejenigen, die sich für eine musikalische Laufbahn entscheiden, haben durch diese frühen Orchester-Erfahrungen auf jeden Fall Vorteile im Studium und darüber hinaus. Das Wichtigste für mich in meiner Funktion als musikalischer Leiter von ATTACCA ist, meine Liebe zur Musik weiterzugeben, so dass der Funke überspringt und die Jugendlichen für die Musik brennen!

DW: Herr Liška, was ist Ihre Motivation, mit den jungen Menschen zu arbeiten?

Ivan Liška. Ich bin ein Tanzschaffender – so nennt man uns. Ich glaube, Teil meiner Motivation ist die große Bewunderung dafür, was meine Vorgängerin – Konstanze Vernon – in München geschaffen hat. Als die Zeit reif war, hat sie mich gebeten, hier weiterzumachen. Weiterzumachen bedeutet, ihre Vision, die auch meine ist, zu vertreten. Und nachdem ich das Glück hatte, 18 Jahre lang das Bayerische Staatsballett zu leiten und vorher mit ziemlich vielen Choreografen erfahren habe, worauf es ankommt, möchte ich dieses Wissen an die jungen Tänzer weitergeben. Essentiell ist für mich, dass wir ernsthaft Menschen auf die Bühne stellen, die ehrlich zu sich und zu den Zuschauern sind. Ob es sich um eine Tragödie oder um eine Atmosphäre handelt, es muss auf jeden Fall wahrhaftig sein. Nach der Vorformung der jungen Generation durch die Akademien und durch die digitalen Medien ist unser Ziel, ihre Charaktere sich individuell entwickeln zu lassen und sie nicht in eine Form zu zwingen. Sie sollen die Form, also den Tanz, den Ausdruck auf der Bühne, die Musikalität, die Ausdrucksfähigkeit danach ausrichten, was sie in sich entdecken. Mit dem Ballettmeister Olivier Vercoutère helfen wir ihnen dabei, den Mut zu haben, das in sich zu finden. Ich glaube, das ist essentiell – die Pirouetten, Sprünge, das Füße-Strecken oder Nicht-Strecken ist die Begleiterscheinung. Deshalb freue ich mich, dass wir als halbbekannte Gruppe in Deutschlands Theatern auftreten und die Zuschauer nach der Vorstellung immer begeistert sind und dies manchmal sogar mit stehenden Ovationen zeigen. Das zeigt, dass wir unser Ziel erreicht haben.

DW: Herr Bergius, was hat das Publikum Besonderes von der Zusammenarbeit zwischen ATTACCA und dem Bayerischen Junior Ballett München?

Allan Bergius: Ich glaube, dass es für das Publikum wirklich etwas Besonderes ist, zu sehen und zu hören, wozu junge Menschen in der Lage sind. Das ist inspirierend. 

DW: Herr Liška, was hat das Publikum Ihrer Meinung nach davon?

Ivan Liška: Dass die Zukunft optimistisch bleibt. Das ist das Wichtigste. Wir bieten eine sichere Brücke in die Berufswelt für alle diese jungen Leute, die in zehn oder zwanzig Jahren vielleicht die Bestimmenden an den Theatern sind. Diese Menschen werden dann auf Grundlage ihrer Erfahrung entscheiden – und eben nicht nur aus der Theorie. Außerdem erlebt das Publikum die Förderung von Kollektiven. Man braucht einen festen Hintergrund und eine sichere Herkunft, um daraus hervorragen zu können. Bei manchen Tänzern können wir beobachten, wie fragil sie sind, wenn sie keine sichere Jugend, Erziehung oder Ausbildung hatten. Wir stellen die jungen Menschen vor professionelle Anforderungen, damit sie an ihnen wachsen. Dazu gehört – neben dem Tanz – auch, die Kostüme zu schleppen, den Bühnenboden zu legen oder auch mal einen Besen in die Hand zu nehmen, so dass sie nicht nur eine Karriere im Elfenbeinturm erwartet.

DW: Herr Bergius, welchen Wert sehen Sie in dieser Zusammenarbeit mit dem Ballett?

Allan Bergius: Ich finde das Miteinander von so vielen verschiedenen Mitwirkenden unglaublich bereichernd, und das möchte ich auch gerne ATTACCA weitergeben. Das Orchester ist zwar nicht Hauptakteur auf der Bühne, hat aber dennoch eine tragende und verantwortungsvolle Rolle für das Gelingen der Vorstellungen. Es ist im Prinzip ein Teamwork auf großer Ebene. Das ist sicherlich auf andere Bereiche im Leben übertragbar und daher sehr wertvoll.