Essay
Getanzte Leidenschaft: Nacht auf dem kahlen Berge
von Deike Wilhelm
Treibende Musik. Leidenschaft. Drama. Wildheit. Unbändige Energie. Und sehr viel musikalisch erzählte Geschichte. So kann man die Musik „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ von Modest Mussorgsky knapp beschreiben.
Hexen tanzen nachts auf dem kahlen Berg – bei uns kennen wir den Blocksberg. Kulturübergreifend gibt es diese alte Erzählung: einmal im Jahr treffen sich die Hexen auf dem Berg, um dort auf dem Hexentanzplatz ihren Hexensabbat zu feiern. Das löst unzählige Fantasien aus und ist Thema des programmatischen Orchesterwerks von Modest Mussorgsky, das dieser zeitlebends immer wieder umgearbeitet hatte und welches dann doch erst nach Mussorgskys Tod überhaupt zur Aufführung kam. Unzählige Mythen, Märchen, Vorstellungen und Symbole ranken sich um das Thema Hexen. Einerseits. Andererseits die dunkle Geschichte der Hexenverfolgung, der allein in Westeuropa vierzig- bis sechzigtausend Frauen zum Opfer fielen. Dieses Thema gibt somit einerseits reichlich Stoff für zahlreiche Fantasien und ist zugleich ein Thema, das durch seine historische Belastung nicht frei von negativen Assoziationen ist. Inmitten unserer heutigen Sensibilität für Themen rund um Fragen der Macht, Rolle der Frauen bis hin zu Geschlechterrollen überhaupt, Stigmatisierung und geschärfter Wahrnehmung von Macht-Verhältnissen einer männlichen geprägten Gesellschaft ist das Thema durchaus komplex. Tatsächlich verlangt die künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Musik also neben Fantasie und Neugier große Achtsamkeit sowie nicht zuletzt auch eine gehörige Portion Mut.
Hexen tanzen nachts auf dem Berg. Leidenschaft, Rohheit, Lebensenergie. Wildheit, Naturverbundenheit und unbändige Lebenskraft. Prickelnde Vorstellungen, die einer gewissen Erotik nicht entbehren. Doch was sind sie – die Hexen? Sind sie nicht vielleicht vor allem Figuren, Bilder, Stereotypen – geboren von Männern, deren Interesse einer Mischung von Faszination, Angst, Fantasie entsprungen ist? Vielfach wurden in der Geschichte (und zum Teil heute noch in anderen Kulturen, wie man zuletzt im Museum der Fünf Kontinente erfahren konnte) schlicht weise Frauen als Hexen fremdbeschrieben. Stigmatisiert. Und mit unzähligen Bildern und Vorstellungen besetzt. Wissende und naturverbundene Frauen also, die beispielsweise des Nachts ihre Kräuter sammeln, da bestimmte Pflanzen nur dann ihre Kräfte entwickeln. Frauen, die in Verbindung mit anderen Frauen stehen, Frauen, deren Körper mit ihrer wunderbaren Möglichkeit, neues Leben zu empfangen und gebären zu können ein großes Mysterium sind und Frauen, deren Spiritualität und Schoßweisheit die Verbindung zu tiefstem, vielleicht heiligem Wissen führt. Den Männern möglicherweise in dieser Form verschlossen. Das faszinierte und machte Angst. In einer männerdominierten Gesellschaft. Kribbeln und Gruseln zugleich.
Auf diese programmatische und zwölf Minuten treibende Musik von Modest Mussorgsky zu choreografieren ist wahrhaft kein leichtes Unterfangen. Das ist vermutlich der Grund dafür, dass dieses Orchesterwerk bisher – zumindest in der nicht-russischen Welt – nicht vertanzt zu finden ist. So ist es jedenfalls kein Wunder, dass Eric Gauthier zunächst zögerte, bevor er zusagte, auf diese Musik zu choreografieren. Trotz der Liebe zu diesem Werk, die bei seiner Entscheidung zum Glück gemeinsam mit Neugier und Lust auf die Herausforderung den Zweifel besiegte. Ivan Liška hat das Werk gemeinsam mit Allan Bergius, Künstlerischer Leiter von ATTACCA, ausgewählt, auch, um möglichst vielen jungen Musikern die Gelegenheit zur künstlerischen Entwicklung zu geben. Denn das bietet dieses groß besetzte Werk. Ivan Liška beschreibt es als hochdramatisch, ja „fast einem Tornado gleich“. Und Liška war es auch, der Eric Gauthier diese Neu-Kreation anvertraute, nachdem er dessen Arbeiten im neo-klassischen Bereich gesehen hatte. Eric Gauthier gilt als „Rockstar des Balletts“, dessen persönliche Lebensaufgabe es ist, alle Menschen grenzüberschreitend mit seiner Liebe zum Tanz anzustecken. Derzeit ist er in der ARD-Dokumentarfilmserie „Dance Around the World“ vor der Kamera als charmanter und souveräner Moderator und Tanzexperte zu erleben, der die Zuschauer in die Tanzszenen von Metropolen wie Tel Aviv, St. Petersburg oder in die Niederlande führt. Unbedingt sehenswert! Ihm ist innerhalb weniger Jahre der große Sprung gelungen: vom charismatischen Publikumsliebling des Stuttgarter Balletts zum international renommierten Choreografen und Künstlerischen Leiter einer der erfolgreichsten deutschen Tanzkompanien. 2006 gründete er seine Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart, die mit international renommierten Choreografen zusammenarbeitet und deutsches Glanzlicht im Jahrbuch der Fachzeitschrift tanz 2022 war. Der Erfolg der von Publikum und Kritikern gleichermaßen gefeierten Company ist nicht nur Gauthiers charismatischen Charme zu verdanken, sondern auch seiner direkten Art, das Publikum anzusprechen und Tanzabende zu präsentieren, die immer wieder aufs Neue begeistern. Auch dem Münchner Publikum ist Gauthier kein Unbekannter, tanzt doch das Bayerische Junior Ballett München seit 2018 immer wieder sein humorvolles Werk »Ballet 102«.
Eric Gauthier hat mit seiner »Nacht auf dem kahlen Berge« nun ein Ensemble-Stück für fünf Paare geschaffen. Das Stück besteht dabei aus zehn unterschiedlichen Pas de deux mit jeweils eigenem Bewegungsrepertoire, was zu einer unglaublichen Vielfalt an Bewegungsformen führt. Durchbrochen werden diese unterschiedlichen Pas de deux jeweils durch Unisono-Ensemble-Teile, die kontrapunktisch das Werk zusammenhalten. So besticht das musikalisch treibende, intensive und hochdramatische Stück choreografisch durch ein überbordendes Bewegungsrepertoire. Dynamisch und neo-klassisch die Bewegungssprache. Eric Gauthier lässt seine Tänzerinnen eigenwillig, widerspenstig und jeweils sehr eigen ihre Bewegungsformen finden. Auf Spitze, zugleich nie in klassischer Ballett-Sprache. Fast meint man fliegende Besen zu sehen, wenn die Frauen – getragen von ihren Partnern – über die Bühne gleiten. Die Männer. Sie stützen, verstärken, vergrößern die Bewegungen der Frauen. Führen die Frauen in Hebungen über die Bühne. „Die Männer sind wie ein Spiegelbild des Berges,“ so Eric Gauthier, „sie verstärken die Frauen, damit sie diese riesigen Bewegungen und Hebungen machen können. Und am Ende geben die Männer den Frauen einen Teil von sich selbst.“
Eric Gauthier stellt in seinem Werk eindeutig die Frauen mit ihrer Kraft und Charakterstärke in den Fokus seiner Arbeit. Er zeichnet fast idealistische Frauenbilder, die Selbstbewusstsein, Widerspenstigkeit, Anmut und zugleich sanfte Weiblichkeit ausstrahlen. Frauen, die in den Pas de deux ihren Partner wahrnehmen und auch brauchen, da sie erst durch ihn ihr großes Potential voll entfalten können. Die Männer heben ihre Partnerinnen und tragen sie durch den Raum, sie spiegeln ihre Bewegungen und ergänzen sie. So besticht neben diesen starken Frauen auch die zugleich fast durchgängige kraftvolle Präsenz der Männer. „Ich stelle mir vor, dass die Männer-Energie – die Berg-Energie – die Kraft der Frauen ergänzt, so dass sich gemeinsam eine Superkraft entwickelt.“
Die neue Kreation erweckt zugleich auch die Sehnsucht einer symbiotischen Verbindung von Mensch und Natur. Vielleicht ruht dieser besondere kahle Berg das ganze Jahr hindurch. Möglicherweise wird er nur einmal im Jahr erst durch den Tanz der Frauen zum Leben erweckt. Die Frauen brauchen den Berg – sie brauchen die Natur – genauso wie der Berg – die Natur – vielleicht doch auch uns Menschen braucht. Die Frauen verbinden sich mit dem Berg – den Männern -, werden von ihm respektiert und verstärkt, um am Ende etwas Gemeinsames zu schaffen. Die Männer geben den Frauen einen Teil von sich. Um so Neues zu schaffen. Wiederum den Berg. Es bleiben Assoziationen, Poesie, Emotionen. Kreation, Schöpfung, geht nur gemeinsam. So ist dieses neue Werk zurecht auch ein Ensemblestück – eine Choreografie, die neben den Paaren auch die Gemeinschaft braucht. Diese Gemeinschaft besteht einerseits aus allen fünf Paaren, andererseits aber auch aus der Gemeinschaft der Frauen, ihrer Nähe und Verbundenheit. Berührend vor diesem Hintergrund zugleich die Rolle der Männer, zentrales Element der gemeinsamen Kraft und essentiell beteiligt an der gemeinsamen Kreation. Wir als Zuschauer erleben eine facettenreiche Vielfalt von unterschiedlichen klaren, erwachsenen, selbstbewussten Frauen, von Beziehungen, von Verbindungen zwischen Mann und Frau, von Tanz, von Mensch und Natur. Berührend der intime Moment, wenn sich die Frauen nah, weich und verbunden mit ihrem Berg zeigen. So teilen sie, nachdem wir sie anfangs als eigenständige charakterstarke Frauen kennengelernt haben, am Ende ihre Verletzlichkeit mit dem Berg und mit uns Zuschauern.
Auch wenn in unseren heutigen Zeiten – geprägt durch eine große Sensibilität und Aufmerksamkeit für Fragen von Geschlechter-Ungerechtigkeiten und Machtverhältnissen – die künstlerische Auseinandersetzung mit Hexen und Frauen also durchaus eine Herausforderung sein kann, arbeitet Eric Gauthier klar, direkt und berührend die Unabhängigkeit und zugleich eine strahlende Weiblichkeit heraus, die neben ihrer Eigenwilligkeit niemals ihre Sanftheit verliert. Er bleibt dabei nah an der stark programmatischen Musik, ohne den Inhalt genau nachzuerzählen. Er verlässt die klassische Formsprache zugunsten seiner Geschichte, die von Frauen und Männern, Mensch und Natur, Kraft und Weichheit der Frauen, Beständigkeit und Zuwendung der Männer erzählt. Fast ist einem, als erlebe man ein harmonisches Ideal – eine neue Welt -, in der eine perfekte Symbiose zwischen Mann und Frau, Mensch und Natur gelebt wird. Gemeinsam tanzen sie. Gemeinsam kreieren sie, wenn am Ende der Berg entsteht. Ein kleiner Berg, der zu einem großen Giganten in seinem Schattenbild erwächst.