Backstage

Porträt

Messerscharf: Jorma Elo und das Bayerische Junior Ballett München

von Lisa Marie Bowler

Wenn der finnische Choreograf Jorma Elo den Ballettsaal in München betritt, scheint der Raum sich zu fokussieren. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Ballett München arbeiten an «Slice to Sharp» – einem seiner bekanntesten und zugleich anspruchsvollsten Ballette. Das Stück, 2006 für das New York City Ballet geschaffen, ist schnell, filigran und präzise. Es verlangt Ausdauer, Genauigkeit und ein unermüdliches Gespür für Rhythmus. Für Tänzerinnen und Tänzer am Beginn ihrer Laufbahn ist es eine gewaltige Herausforderung. „Es war für uns alle ein wunderbarer Schock“, sagt Elo. „Die technischen Anforderungen überraschen jeden. Man versucht diese Schnitte, diese Schärfe einzufangen und sie so zu timen, dass sie mit der Musik übereinstimmen. Wenn es gelingt, ist es großartig.“

Elo fand nicht auf direktem Weg zum Tanz. Als Junge in Finnland träumte er davon, Profi-Eishockeyspieler zu werden. Er liebte die Geschwindigkeit, die physische Intensität des Sports. Zum Tanz kam er erst, als er seinen Schwestern in den Unterricht folgte. „Ich wollte für das Hockey beweglicher werden“, erinnert er sich. „Aber dann merkte ich: Tanz ist Bewegung und Sportlichkeit – mit Musik. Das war besser als Hockey. Seitdem bin ich in den Tanz verliebt.“ Von diesem Moment an verschob sich sein Fokus. Ein Stipendium an der Kirov-Ballettschule in Leningrad öffnete ihm den Zugang zu einer der strengsten Ausbildungsstätten der Welt. Besonders prägte ihn Mikhail Baryshnikov, der in den Westen geflohen war und dort zum Symbol künstlerischer Freiheit wurde. „Seine Freude am Tanzen hat mich sehr beeinflusst. Ich wollte lernen, wo er gelernt hatte“, sagt Elo.

Nach seinem Abschluss trat er dem Finnischen Nationalballett bei, das damals Teil der Oper war. Schon mit fünfzehn, sechzehn Jahren stand er regelmäßig auf der Bühne – in Opern, Operetten und Balletten. „Ich liebte es in dieser magischen Kunstkiste zu sein, gemeinsam mit den Musikern und Sängern.“ Es war eine prägende Zeit: Der vielseitige Spielplan brachte ihn mit Klassikern ebenso in Berührung wie mit modernen Choreografen wie Jiří Kylián oder Mats Ek.

Von Eks Mischung aus Körperlichkeit und Theatralität fasziniert, fasste Elo einen mutigen Entschluss: Er bat darum, zum Cullberg Ballet zu wechseln, das Ek damals leitete. Ek sagte ja – und Elo zog nach Schweden. Diese Zeit sollte sein künstlerisches Denken tief prägen. „Es war wie eine Theaterschule für mich“, sagt er. „Ich lernte, wie ausdrucksstark ein einfacher Blick sein kann.“ Er fand sich inmitten einiger der wichtigsten Tanzkünstler seiner Generation wieder. Unter Mats Ek zu arbeiten war wie er sagt, „ein Total-Erlebnis“. Die Kompanie war nicht nur durch Eks inzwischen legendäre Stücke geprägt, sondern auch durch die außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die er um sich versammelt hatte. „Er hatte eine fantastische Gruppe von Tänzern und Tänzerinnen, die zugleich Schauspieler waren“, erinnert sich Elo. „Jeder Tag im Studio war inspirierend – das Niveau, die theatralische Hingabe, die Intensität von allem.“

Auf Tourneen erlebte er, welche Wirkung eine solche Truppe entfalten kann. „Wir tanzten «Giselle», «Schwanensee», und das Publikum behandelte uns wie Rockstars“, sagt er. „Es war eine großartige Zeit, Tänzer in dieser Kompanie zu sein.“

1990 schloss sich Elo dem Nederlands Dans Theater (NDT) unter Jiří Kylián an. Dort begann sich sein choreografischer Weg zu formen. Im NDT wurden Tänzer und Tänzerinnen nicht nur als Ausführende, sondern als Gestaltende gesehen. Sie sollten Material vorschlagen, experimentieren, Ideen einbringen. „Es war wie ein Labor“, sagt Elo. „Monat für Monat kamen neue Choreografen und wir mussten ihnen etwas anbieten, mit dem sie arbeiten konnten. Das hat mich später auf meine eigene Arbeit vorbereitet.“ Auch ermutigte die Kompanie ihre Mitglieder, selbst zu choreografieren. Bei den jährlichen Werkstattaufführungen begann Elo, Bewegung nach seinen eigenen Vorstellungen zu erforschen. „Alle machten mit, also wollte ich auch dabei sein. Ich hatte keine wirklichen Ambitionen, Choreograf zu werden – aber ich habe mich langsam in diese Arbeit verliebt.“

Im Jahr 2000 schickte Elo ein Video eines seiner Stücke an eine Kompanie und erhielt zu seiner Überraschung den Auftrag zu einer professionellen Produktion. „Es war eine neue Ebene“, sagt er. „Ein eigenes Werk auf die Bühne zu bringen und dafür bezahlt zu werden – das war stark.“ Von da an folgten Aufträge in rascher Folge. In den vergangenen zwei Jahrzehnten schuf Elo über 60 Ballette für Kompanien weltweit – darunter das American Ballet Theatre, Bolshoi Ballett, Königlich Dänisches Ballett und das Stuttgarter Ballett. Sein Stil, geprägt von Geschwindigkeit, Präzision und einer engen Verbindung zur Musik, machte ihn zu einer der markantesten choreografischen Stimmen seiner Generation. Seit 2005 ist er zudem Hauschoreograf des Boston Ballet. „Diese Basis zu haben war wichtig“, sagt Elo. „Choreografen haben Höhen und Tiefen. Aber wenn eine Kompanie hinter einem steht, kann man mehr riskieren.“

Seinen internationalen Durchbruch erlebte er mit «Slice to Sharp», 2006 für das New York City Ballet im Rahmen des Diamond Project entstanden. Er arbeitete mit Solisten und Solistinnen in einer Kompanie, deren Energie unablässig pulsierte. Der Titel des Stücks spricht von beidem, Wagnis und Möglichkeit: „Ich dachte: Was schneide ich mir davon ab? Ich wollte meinen Schnitt messerscharf machen.“ Das Ballett, getanzt zu Musik von Antonio Vivaldi und Heinrich Ignaz Franz von Biber, wurde rasch zu seinem Markenzeichen. Die aufgeladene Dringlichkeit der Musik war der Funke, den Elo brauchte. „Sie erinnerte mich an meine erste musikalische Liebe – an den Klang einer elektrischen Gitarre bei einem Live-Rockkonzert.“ Für Elo ist Musik das Fundament jeder Choreografie. Er taucht tief in die Partitur ein, lange bevor er das Studio betritt. „Ich höre so viel, bis sie wie Wasser wird, in dem ich frei schwimmen kann“, sagt er. Die barocke Musik war entscheidend für «Slice to Sharp». „Jedes Mal, wenn ich sie höre, feuert sie meine Gehirnzellen an. Die Schärfe des Spiels, die Energie – sie schenkt mir jedes Mal etwas Neues.“

Visuell ist «Slice to Sharp» reduziert. Holly Hynes’ Kostüme sind schlicht, der Blick bleibt ganz auf der Bewegung. Doch die Choreografie ist alles andere als schlicht: rasante Fußarbeit, Verschiebungen des Gleichgewichts, abrupte Richtungswechsel, der Körper stets in Bewegung. Das Stück lotet die Grenzen der klassischen Technik aus, ohne den Bezug zur Musik zu verlieren. Seit der Uraufführung wurde «Slice to Sharp» von Kompanien in Europa, den USA und Russland getanzt, wo Elo 2010 den Benois de la Danse erhielt. Anders als andere Werke, die er weiterentwickelt, blieb dieses weitgehend unverändert. „Es ist fast so geblieben, wie es bei der Uraufführung in New York war.“

Weitergabe an eine neue Generation

Das Bayerische Junior Ballett München bietet einen ganz anderen Kontext. Die Kompanie ermöglicht jungen Tänzerinnen und Tänzern zwischen 17 und 21 Jahren ihre ersten professionellen Bühnenerfahrungen. Nach spätestens zwei Jahren wechseln sie an große Häuser. Das Ensemble gastierte bereits in Europa, Israel und Hongkong. Für Elo bedeutet die Arbeit mit dieser Gruppe Herausforderung und Chance zugleich. „Das Ballett hat viel Tempo und komplexe Partnerarbeit“, erklärt er. „Ohne jahrelange Erfahrung ist das schwerer. Aber es bringt auch Frische. Die Tänzer haben keine festen Gewohnheiten. Sie überraschen mich.“

Die Proben in München werden von Nancy Euverink geleitet, Elos langjähriger Repetitorin, die seine Werke weltweit einstudiert und sie regelmäßig für Kompanien rund um den Globus neu einrichtet. Ihre Kenntnis der Bewegungssprache ist entscheidend, um die jungen Tänzer in den Stil einzuführen. Elo sieht den Prozess als Balance-Akt zwischen Treue zum Original und Anpassung. „Ich versuche immer, der ursprünglichen Idee so nahe wie möglich zu kommen, aber jede Kompanie bringt ihren eigenen Charakter mit. Das prägt das Stück.“

Was bedeutet Tanz für ihn? Elo überlegt einen Moment. „Der Tanz hat mir alles gegeben – mein Leben, meine Liebe, meine Partnerin, Momente, die ich mit anderen Menschen teile. Jeder sollte den Tanz in irgendeiner Form in seinem Leben haben.“ Für ihn schafft die Aufführung eine gemeinsame Erfahrung jenseits von Sprache. „Auf der Bühne kann ich die Zeit dehnen. Das Publikum versteht vielleicht nicht alles, aber fühlt es. Es wird in eine andere Welt entführt – danach sehnen sich viele.“

Nach fast zwei Jahrzehnten als Hauschoreograf des Boston Ballet schafft Elo weiterhin neue Werke, von abstrakten Studien bis zu abendfüllenden Handlungsballetten. Seine Karriere ist geprägt von Vielseitigkeit, Risikofreude und tiefer Hingabe an die Kunstform. Mit «Slice to Sharp» in München richtet sich sein Blick auf die nächste Generation. Für die Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Balletts ist die Arbeit eine Gelegenheit, sich an einem der präzisesten Stücke des zeitgenössischen Repertoires zu messen. Für Elo ist es die Chance, sein Werk mit ihren Augen neu zu sehen. „Es ist aufregend“, sagt er schlicht. „Man weiß nie genau, wie es ausgeht. Aber wenn Musik und Bewegung eins werden, dann bekommt es ein eigenes Leben.“