Backstage

Ballett und Wildnis

Pas de deux mit Bergahorn

von Till Meyer

„Bitte weniger Ästhetik und mehr Natürlichkeit.“ Die Zurufe der Choreografin Martina La Ragione an die Tänzer und Tänzerinnen ließen die Handvoll Zuschauer, die sich beim „Forest-Rehersal“, den Waldproben, eingefunden hatten, ahnen, wohin die Entwicklung gehen würde. Auch: „Bitte wieder die Linien aufbrechen.“ Die Künstler des Bayerischen Junior Balletts München wussten sofort, was mit „Linien aufbrechen“ gemeint war.

Voraussetzungen einer Wildnis-Choreografie

„Bitte weniger Ästhetik und mehr Natürlichkeit.“ Die Zurufe der Choreografin Martina La Ragione an die Tänzer und Tänzerinnen ließen die Handvoll Zuschauer, die sich beim „Forest-Rehersal“, den Waldproben, eingefunden hatten, ahnen, wohin die Entwicklung gehen würde. Auch: „Bitte wieder die Linien aufbrechen.“ Die Künstler des Bayerischen Junior Balletts München wussten sofort, was mit „Linien aufbrechen“ gemeint war. Die kleine Gruppe, die zunächst als harmonische Einheit geheimnisvoll aus dem Wald heraus geschritten war, stob wild auseinander; aus fließenden, harmonischen Bewegungen wurden bei einigen erratische Stakkatos. Die traditionelle Ästhetik und die eingespielten Bewegungen des klassischen Balletts, welche die jungen Künstler bis zur Perfektion beherrschen, sollten, so La Ragione, „durch Unterbrechungen neue Qualitäten und auch eine neue Ästhetik entwickeln“.

Martina La Ragione ist dem Münchner Publikum als Choreografin und Tanzpädagogin von ‚Anna tanzt‘ und ‚Heinrich tanzt‘ bekannt, zwei erfolgreichen Kooperationsprojekten des Bayerischen Staatsballetts mit Münchner Schulen. In ihrer Heimatstadt Bologna arbeitete sie als Ausbilderin und Choreografin für die Art Factory International (AFI), einer (derzeit geschlossene) Tanzplattform des Forsythe Performers Brigel Gjoka. Deutschlandweit und international konnte sie erst kürzlich ihr Renommee ausbauen mit Auftritten in den Pina Bausch Produktionen «Sieben Todsünden» und beim Tanztheaters Wuppertal.

Für das Bayerische Junior Ballett München ist Martina La Ragione immer wieder als Gast-Dozentin tätig. Das aktuelle Projekt, zu dem sie in diesem Frühjahr nach München kommt, um mit den Junioren zu arbeiten, heißt «Tanzende Faune» und soll vom 19. bis zum 21. Juni 2020 als Teil der Reihe ‚Ballett und Wildnis‘ im Besucherzentrum ‚Haus der Wildnis‘ des Nationalparks Bayerischer Wald in Niederbayern uraufgeführt werden. Vier Wochen später, am 18. und 19. Juli, wird «Tanzende Faune» beim Carl-Orff-Fest von Kloster Andechs am Ammersee gezeigt.

Anlass für die Produktion von «Tanzende Faune» ist das 50jährige Jubiläum des Nationalparks Bayerischer Wald, dem ersten von mittlerweile 16 Nationalparks in Deutschland. Das Kommando der Choreografin „Weniger Ästhetik, mehr Natürlichkeit“ ist ganz im Sinne des Nationalpark-Leiters Dr. Franz Leibl. „Vor fünfzig Jahren“, erzählt er, „haben wir uns entschieden, der natürlichen Entwicklung im Nationalpark den Vorrang zu geben. Durch Klimawandel und Borkenkäfer entstand eine neue Waldnatur. Die Menschen brauchen offenbar Zeit, um sich an so eine neue Ästhetik zu gewöhnen. Dass uns die Künstler des Junior Balletts dabei unterstützen, ist ein großer Gewinn, ein Sechser im Lotto“.

Die ersten experimentellen „Choreografie-Bausteine“ konnte La Ragione bereits im Juni 2018  im ‚Hans-Watzlik-Hain‘ des Nationalparks zwischen Tannen, Fichten, Buchen und Bergahornen unterschiedlichen Alters, Größe und Beschaffenheit setzen: jung und elastisch und alt, riesig und durchlöchert, sterbend, morsch und zerfallend, darunter auch einige drei bis vierhundert Jahre alte Baum-Methusalems, was später am Abend am Lagerfeuer Ivan Liška zu den nachdenklichen Sätzen inspirierte: „Wie gehen wir damit um, dass da jemand oder etwas steht, was vierhundert Jahre alt ist und eigentlich die ganze Zeit etwas zu erzählen hat? Respekt, verbunden mit Demut und daraus wiederum womöglich Satisfaktion oder Glückserlebnis; also, das ist vielleicht ein Ansatz für eine Wildnis-Choreografie…!“

Die erste Einstudierung drehten sich nicht um riesige Tannen, sondern um ein paar kaum armdicke Bergahorne, an denen die Tänzerinnen sich mit einer Hand festhielten und sich herum schwangen, wobei einige der Bäume elastisch nachgaben, was es den Tänzerinnen erlaubte, mit der anderen Hand zu Boden zu greifen. Bei einer weiteren Szene rückte eine alte Tanne in den Mittelpunkt, auf welche die Gruppe zulief und dabei wie eine Schar Küken wirkten, die sich unter die Fittiche des Mutterhuhns flüchtete. Dann versammelten sich die Tänzeinnen und Tänzer, um aus ihren Körpern ein zweistöckiges Dreieck gegen den riesigen Stamm zu bauen, als wollten sie dem alten Baum zusätzliche Unterstützung geben und gleichzeitig Trost an seiner in der Ewigkeit wurzelnden Existenz finden.

Einige der jungen Künstler waren in Kostüme  gekleidet, die im Zeitraffer die Menschheitsgeschichte spiegelten: von Tierfellen der menschlichen Frühzeit über Tüll und Seidenbrokat des Barock, märchenhaft-romantischen Feenkleidchen, den zeitlosen Tutus des romantischen Balletts, um schließlich bei den Kunstfaser-Trikots des modernen Tanztheaters zu landen. Die Kontraste zu der umgebenden Natur konnten größer nicht sein. Gleichzeitig dürfte das bei manchen Zuschauern auch Déjà-vu-Momente ausgelöst haben. Denn ein zartes Feenkleidchen gehört in unsere Vorstellungswelten mindesten ebenso in einen Wald wie auf die Theaterbühnen. Déjà-vu-Momente völlig anderer Art lösten sicherlich auch manche der  lauernden, tiefgeduckten raubtierhafte Bewegungsabläufe aus, welche die Tänzer und Tänzerinnen auf Geheiß von Martina La Ragione ausprobierten.

Am Vortag der Waldproben hatten die jungen Künstler verschiedene Lebensräume wie Urwald, Seeufer, Moore, Waldwiesen erlebt und Geschichten über ihre geheimnisvollen Bewohner erfahren. Nationalpark-Leiter Franz Leibl ließ es sich nicht nehmen, Martina La Ragione mit einer Gruppe von 15 Junioren einen Tag lang durch den Park zu führen. Dank der Erzählungen Leibls erschlossen sich den Künstlern geheimnisvolle Dynamiken der wilden Natur, etwa dass tote und sterbende Bäume ein Quell des Lebens sind, wo seltene Pilze, Flechten, Insekten und Vögeln erst aufgrund des natürlichen Zerfalls gedeihen können.Dass gerade solche Kreisläufe des Werdens und Vergehens für besonders stabile und artenreiche Wälder sorgen, war eine der beeindruckensten Botschaften aus der Wildnis.

Die anschließende Diskussion am Lagerfeuer und die Übernachtung im Wildniscamp des Nationalparks gehörten zum Gesamtkonzepts des Projekts “Ballett und Wildnis“, mit dem das „Wilde um uns und in uns zur Deckung gebracht und nach außen getragen werden soll.“ 

Dies war auch im Sinne der Absichtserklärung, die ein paar Wochen zuvor, am 6. Mai 2018, von Ivan Liška und dem damaligen bayerischen Umweltminister Marcel Huber unterzeichnet worden war und in der es heißt: „Die Projektpartner beziehen sich dabei auf eine Traditionslinie, die mit Balletten wie  «Giselle» (1841), «Schwanensee» (1877) aber auch «Nachmittag eines Fauns» (1912) die Grenzen zwischen Naturreich und Menschenwelt durchlässiger machte, eine Erkenntnis, die von Charles Darwin 1859 in wissenschaftlicher Form in Umlauf gebracht wurde. Diese Grundideen standen auch Pate beim Projekt ‚Ballett und Wildnis‘. “Das Projekt wurde 2004 mit dem Bayerischen Staatsballett und dem bayerischen Umweltministerium als Kooperationspartner begonnen. 2014 übernahm das Bayerischen Junior Ballett München unter Ivan Liška die weiteren Umsetzungen.

Bei einem ersten Briefing im Juni 2018 hatte Martina La Ragione deutlich gemacht, dass sie sich als Vertreterin des „Contemporary Dance“, also des zeitgenössischen Tanzes, nicht unbedingt an die „Traditionslinien des Balletts“ gebunden sah. Allerdings würde die Idee der „Durchlässigkeit zwischen Naturreich und Menschenreich“ attraktiven Stoff für ihre Arbeit bieten.

Nachdem die vertraglichen Eckpunkte der geplanten Choreografie konkret geworden waren, konnte Martina La Ragione im Februar 2020 damit beginnen, ihre Gedanken zu dem Projekt mit der ihr eigenen kraftvollen Poesie zu Papier zu bringen: „In die Natur einzutauchen, war eine heilige, kraftvolle und bewegende Erfahrung. Die Exkursionen führten bei uns dazu, dass wir die Schönheit der Landschaften nicht nur mit den Augen, sondern mit allen Sinnen entdeckten, die Farben, die Geräusche, den uralten und gleichzeitig erstaunlich frischen Geschmack von endlosem Tod und ewiger Wiedergeburt. Es war atemberaubend, dies mit Körper und Geist zu erspüren und diese Heiligkeit zusammen mit der mächtigen Konkretheit der Umgebung in uns aufzunehmen“.

Und weiter schreibt sie: „Die Inspiration, der Ausgangspunkt meiner choreografischen Recherche war der Wunsch, die Intensität des Eintauchens in die Natur noch zu verstärken, selber zur Natur zu werden selber Teil dieses Wunders zu sein, dem wir unweigerlich auf diskrete, fast unmerkliche und unbewusste Weise angehören. Ich will mit Respekt und Ehrerbietung an die Schönheit der Wiedervereinigung mit etwas Ursprünglichem und Archaischem erinnern, das tief in unserer DNA gespeichert ist.

Ausgehend von diesem Spektrum wollte ich eine Choreografie schaffen, in der das Göttliche gefeiert wird, das Ritual der Verschmelzung von menschlichen und tierischen Körpern. Die Sinnlichkeit und die Kraft, die daraus entsteht und die letztlich zur Transformation und Ekstase führt, schien mir am besten zur Musik von Carl Orff und seiner Komposition ‚Tanzende Faune‘ zu passen.”

Die Musik, ein Frühwerk aus dem Jahr 1914, ist nach Orffs eigenen Worten ein „verkapptes Tanzstück für die Bühne“. Tanzkenner bemerken in dem Titel eine Nähe zu dem nur zwei  Jahre vorher uraufgeführten Ballett «L’Après-midi d’un faune» (Nachmittag eines Fauns), choreografiert und getanzt von der Tanzlegende Waslaw Nijinsky zur expressionistischen Musik von Claude Debussy.

Doch mit dem ebenso lüsternen wie einsamen Faun aus dem Nijinsky-Ballett haben die Faune bei Martina La Ragione wenig gemein, eher mit dessen kunsthistorisch und archäologisch belegten Vorbildern, die als Zwitterwesen mit unterschiedlichen Namen wie Pan, Satyr oder Faun durch die Kulturgeschichte geistern. Selbst auf 30000 Jahre alten Höhlenbildern der Steinzeit kann man zwischen Mammuts und Bisons flöteblasende Mensch-Tier-Mixturen erkennen.

Der reale Hintergrund der tanzenden Faune ist ein uralter Mythos, der heute noch bei vielen Urvölkern nachklingt, wonach sich Jäger erst in ihre Beute hineinversetzen müssen, bevor sie nahe genug kommen können, um sie zu erlegen. In dem Dokumentarfilm „The Great Dance – A Hunters Story“ kommt ein Jäger vom Volk der San im südlichen Afrika zu Worte: „Wenn du einem Tier folgst, dann musst du zu dem Tier werden, du spürst  ein Prickeln in den Achselhöhlen, wenn das Tier in der Nähe ist. Fährtenlesen ist wie Tanzen, weil dein Körper glücklich ist. Er sagt dir, dass die Jagd erfolgreich sein wird. Du fühlst es im Tanz. Wenn du einem Tier folgst und tanzt, dann sprichst du mit Gott.”

Dass es ähnliche Mechanismen auch bei modernen, nichtjagenden Menschen gibt, ist längst bewiesen. Der Evolutionsforscher Edward O. Wilson konnte in seiner „Biophilie Hypothese“ (1984) zeigen, dass wir in unserer Psyche ein uraltes, archaisches Erbe tragen, eine durch Verwandtschaft bedingte Affinität (Anziehung) zu den anderen Lebewesen in der Natur. In einer neueren Arbeit aus dem Jahr 2006 kommen der Biologe John Vucetich und der Philosoph Michael Nelson zu dem Schluss, dass auch durch touristische Ausflüge in die Wildnis diese Affinität verstärkt wird — vorausgesetzt freilich, die Ausflüge werden körperlich selbst erlebt und nicht mit Hilfsmitteln wie Seilbahn oder e-Bike!

Das erhebende Gefühl, in wilder Natur zu sein, das Martina La Ragione mit „Ekstase“ vergleicht, hat dabei dieselbe neurologische Basis wie der Tanz: Durch kombinierte Stimuli werden Endorphine („Glückshormone“) ausgestoßen. Während beim Bühnentanz diese Stimmung vor allem durch die Kombination aus Musik und körperlicher Bewegung entsteht, ist in der Wildnis der Mix aus Natur und Bewegung dafür verantwortlich. Laut Vucetich und Nelson wird durch körperliche Bewegung in der Wildnis und die damit einhergehende Achtsamkeit und Fokussierung die Anziehung zur Empathie verstärkt, also zur Bereitschaft, sich in diese wilden Lebensräume und deren Bewohner einzufühlen. In einer Wildnisumgebung umfasste dieses verstärkte Einfühlungsvermögen oft Menschen und nicht-menschliche Lebewesen gleichermaßen und sogar die Wildnis selbst.

Eine Parallele wird deutlich, Tanz, das heißt, Darstellung von Beziehungen der Menschen, nicht nur zueinander, sondern auch zu dem Raum, in dem sie sich bewegen, ihrer Umwelt. Beide Quellen, sowohl Wilson als auch Vucetich/Nelson, konnten aber auch zeigen, dass die Beziehungen der Menschen zur Wildnis sicherlich nicht nur von positiven Gefühlen geleitet sind, sondern oft von negativen wie Schrecken und Angst. Theaterleute (aber auch Psychologen) wissen allerdings auch, dass Schrecken und Angst wiederum oft Katharsisauslösen, also eine charakterliche Läuterung. Mit anderen Worten: Wer sich in die Wildnis wagt, kommt so oder so oft als besserer Mensch dort wieder heraus.

Wie lässt sich dies mit den von Martina La Ragione gebrauchten Wörtern „heilig“ und „göttlich“ vereinbaren? Im Gegensatz zu allen Tieren können wir Menschen Empathie mit anderen Lebewesen spüren. Diese göttergleiche Fähigkeit, die es uns ermöglicht, uns verantwortlich um das Wohlergehen anderer, artfremder Mitgeschöpfe zu kümmern, unterscheidet uns von allen Tieren. Dass die Lebensräumen dieser Tiere auf ihre Weise „heilig“ sind, also unseren Respekt und unsere Zurückhaltung verdienen, das wird besonders in der Wildnis deutlich.

Dass die aktuelle Corona-Epidemie, die in Martina La Ragiones Heimat besonders viele Opfer forderte, auch den Probenstart um ein paar Wochen verzögert hat, gibt dem ursprünglichen Gedanken der „Durchlässigkeit zwischen Menschenreich und Tierreich“ eine aktuelle und auch tragische Brisanz: Wir Menschen können uns mit Krankheiten auch bei Tieren wie den auf asiatischen Märkten feilgebotenen seltenen Fledermäusen und Schuppentieren anstecken, die nur sehr entfernt, aber eben doch verwandt mit uns sind! Ein respektvoller Umgang mit diesen Mitgeschöpfen und ihren Lebensräumen tut not. Die Kunst, und mit ihr der Tanz, kann einen Beitrag dazu leisten.