Backstage

Musik

Pioniere in Pennsylvania: Coplands Ballett »Appalachian Spring«

von Harold Hodeige

Aaron Copland ging als populärer Schöpfer eines unverwechselbar »amerikanischen« Klangidioms in die Musikgeschichte ein. Bis heute nehmen die »Filmscores« unzähliger US-Blockbuster auf seine Werke Bezug – spätestens, wenn die »Stars and Stripes« der amerikanischen Flagge im Kamera-Ausschnitt zu sehen sind.

Aaron Copland (1900 – 1990)

»Appalachian Spring«
Very Slowly
Allegro
Moderato: The Bride and her Intended
Fast: The Revivalist and his Flock
Allegro: Solo Dance of the Bride
Meno mossO
Doppio movimento: Variations on a Shaker hymn
Moderato: Coda

Bereits als Kind hatte den Komponisten, der in Brooklyn als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer aufgewachsen ist, die typisch New Yorker Mixtur aus Synagogalmusik, Klezmer, Jazz und Ragtimes der Dance Bands fasziniert. Nach frühen Klavierstunden bei seiner älteren Schwester landete er allerdings zum Harmonielehreunterricht zunächst beim erzkonservativen Rubin Goldmark (einem Neffen von Karl Goldmark), der in Wien bei Robert Fuchs und in New York bei Antonín Dvořák studiert hatte. Als Copland bei seinem Lehrer Ives’ Concord Sonata mit ihrem vielfach geschichteten, immer wieder in drei Systemen notierten Klaviersatz entdeckte, war dessen einziger Kommentar: »Bleib bloß weg davon, ich will nicht, dass Du durch so etwas verseucht wirst.«

Auf der Suche nach mehr Innovationsfreude ging Copland nach Frankreich, wo er von Nadia Boulanger, der bedeutendsten Musikpädagogin aller Zeiten, am »Conservatoire américain de Fontainebleau« unterrichtet wurde. Das aus einer gemeinnützigen Stiftung hervorgegangene Institut war zur wichtigsten Kaderschmiede der damals jungen Komponistengeneration geworden, wobei »die Boulanger«, deren Mittwoch-Tees eine Institution des Pariser Musiklebens waren, neben Copland weit mehr als einhundert, später oft weltberühmte Schülerinnen und Schüler hatte. Kein Wunder, dass das liebevoll-ironische Wortspiel der »Boulangerie« (franz. Bäckerei) die Runde machte, was Virgil Thomson, der ebenfalls in Fontainebleau nahe Paris studiert hatte, zum Bonmot verleitete: »Jede amerikanische Stadt hat einen Ramschladen und einen Schüler der Boulanger«.

In Frankreich konnte Copland nach Herzenslust mit Jazz-Elementen experimentieren – nicht um ihrer »vordergründigen Effekte« willen, wie er in seiner Autobiografie schrieb, sondern »um sie in größeren Formen zu verwenden, mit unkonventionellen Harmonien«. Denn anders als bei manchen seiner europäischen Kollegen entsprang der Rückgriff auf den Jazz bei ihm nicht dem Wunsch nach Exotik oder Synkretismus. Copland war auf der Suche nach einem eigenen nationalen Stil, da er die Idiome des sogenannten »Jazz Age« für am besten geeignet hielt, »Tempo und Aktivitäten« des urbanen Amerikas sowie die »Aufgeregtheit von New York City« zu vermitteln. Sein Jazz-Enthusiasmus nahm aber deutlich ab, als die optimistische Fassade der »Roaring Twenties« im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise zu bröckeln begann, weshalb er sich bald modernistischen Idiomen zuwandte (was ihm den Spitznamen »Brooklyn Stravinsky« einbrachte). Die Bostoner Uraufführung seines Klavierkonzerts im Januar 1927 führte zu einem veritablen Skandal, die dissonanten Piano Variations von 1930 vermittelten laut dem Kritiker Paul Rosenfeld »Stahlkräne, Brücken und die Gerüste von Wolkenkratzern«.

Zu seinem als typisch amerikanisch wahrgenommenen Stil fand Copland erst nach der »Great Depression«. Als politisch Linker, der sich für die »Popular Front« engagierte, die u. a. von der Kommunistischen Partei der USA und dem Gewerkschaftsbund CIO unterstützt wurde, kam er zu dem Schluss, dass »moderne« Tonsetzer Gefahr liefen, mit ihrer komplexen Klangsprache gesellschaftlich ins Abseits zu rücken. Copland setzte auf Volksmusik, um das Volk zu erreichen und schrieb in einem autobiographischen Essay von 1939 von der Notwendigkeit einer »selbst auferlegten Einfachheit«: »Ich fand, dass es einen Versuch wert sei, das, was ich sagen wollte, auf die einfachste Weise zu sagen«. Dieser Ansatz machte ihn in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in den USA populär: »Als Komponist, Schriftsteller, Lehrer, Impresario und Freund« so der US-amerikanischer Pianist und Musikwissenschaftler Howard Pollack, »leistete Copland einen beispiellosen Dienst für sein Land. Er demonstrierte erfolgreicher und bezwingender als viele seiner Landsleute, dass Amerika eine lebensfähige und gehaltvolle Musik entlang der europäischen Traditionslinien, jedoch mit einer eigenen Ästhetik, eigenen Rhythmen und Klängen hervorbringen konnte.«

Zu Coplands bekanntesten Werken aus jenen Jahren zählen, neben diversen Filmmusiken, der berühmten Fanfare for the Common Man und dem folkloristisch gefärbten Orchesterstück El salón Mexico, auch die Ballette Billy the Kid, Rodeo und Appalachian Spring. Bei letzterem handelt es sich um ein Auftragswerk der Kunstmäzenin Elizabeth Sprague Coolidge, die für das von ihr finanzierte »Festival of Contemporary Music« in der Library of Congress 1944 auch ein Programm mit der Tänzerin und Choreographin Martha Graham und ihrer legendären Dance Company aufnehmen wollte. Copland nahm den Auftrag dankend an und komponierte ein Ballett – »Marthas Ballett«, wie er das Stück bis zur Premiere nannte – für ein dreizehnköpfiges Kammerensemble mit Flöte, Klarinette, Fagott, Klavier und neun Streichern. Der endgültige Titel »Appalachian Spring« stammte nicht von ihm, sondern von Martha Graham. Sie hatte den passenden Werknamen in der Gedichtsammlung The Bridge des amerikanischen Lyrikers Hart Crane gefunden – im Poem »The Dance«: »O Appalachian Spring! I gained the ledge; / Steep, inaccessible smile that eastward bends / And northward reaches in that violet wedge / Of Adirondacks!« (O Quelle der Appalachen! Endlich am Sims; / Steilhang, unbezwingbares Lächeln, beugt sich nach Ost / und reicht im Norden in den veilchenblauen Keil / des Adirondacks-Gebirges!).

Die Ballettpremiere, die am 30. Dezember 1944 in der Library of Congress in Washington stattfand, war ein großer Erfolg. Denn obwohl Handlung und Musik denkbar weit vom aktuellen Kriegsgeschehen entfernt waren, traf die emphatische Rückbesinnung auf Pioniergeist, einfaches ländliches Leben und amerikanische Werte den Nerv der damaligen Zeit: Umgeben von älteren Siedlern sowie einem Erweckungsprediger und dessen Gemeinde bezieht ein junges Paar im frühen 19. Jahrhundert voller Zuversicht sein selbst erbautes Farmhaus in den sanften Hügeln von Pennsylvania. Die Rahmenhandlung mit Richtfest und Hochzeit ermöglicht eine Reihe von Tänzen für Braut, Bräutigam, Prediger und Hochzeitsgäste, wobei Copland mit einer frappierend bildhaften Musik Akteure wie Publikum ins ländliche Amerika jener Jahre versetzt, obwohl er nur eine einziges echtes Volkslied zitiert. Nach einer Reihe rhythmisch akzentuierter Einzeltänze und idyllischen Zwischenspiele erklingt nämlich das religiöse Quäker-Lied »Simple gifts«, das fünf Variationen durchläuft, bevor die ländliche Szene in nächtlicher Idylle hinwegdämmert. Erst in dieser Bearbeitung avancierte das von der Klarinette eingeführte Kirchenlied, das Copland auch in seine Old American Songs aufnahm, zu einer der populärsten Melodien der USA: Selbst bei der Amtseinführung von Barack Obama wurde es in einem Arrangement von John Williams gespielt.

Ein Jahr nach der Ballettpremiere fertigte Copland von Appalachian Spring eine Orchestersuite für den Konzertsaal an, die mit dem New Yorker Kritikerpreis »Circle Award« und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Im langsamen Anfangsteil werden die Akteure der Reihe nach vorgestellt: der Erweckungsprediger, eine mit den Unwägbarkeiten der Wildnis erfahrene Pionierin, das junge Farmerpaar sowie die Gemeinde des Predigers. Nach einem folkoristischen Tanz folgt eine kurze Gebetsszene, bevor sich ein »Duett der Braut und ihres Zukünftigen« anschließt, »eine Szene der Zärtlichkeit und Leidenschaft« (Copland). Anschließend dominieren unter eher weltlichen Square-Dance-Rhythmen und Country-Fiddler-Anklängen der Prediger und seine Anhängerschar die Szene, bevor im Solotanz der Braut in den Worten des Komponisten »starke Gefühle von Freude, Furcht und Staunen« zum Ausdruck kommen. Die Musik der Gebetsszene wird wieder aufgenommen – der Prediger segnet das Paar –, bevor die Variationen über das Quäker-Lied eine musikalische Steigerung in Gang setzt, während der hauptsächlich das junge Paar tanzt. Es folgt eine ausgedehnte Reprise, bis die Braut ein Gebet spricht, in das (unter Wiederaufnahme des »Gebetsthemas«) alle einfallen. »Am Ende«, heißt es in Coplands Inhaltsangabe, »bleiben die Brautleute ruhig und gekräftigt in ihrem neuen Haus. Gedämpfte Streicher intonieren eine gebetsartige Choralpassage.« Bei der Uraufführung, bei der Martha Graham, Erich Hawkins und May O’Donnell als junges Paar bzw. als erfahrene Pionierin auftraten, übernahm Merce Cunningham die Rolle des Erweckungspredigers – mit einem wilden Tanz, der das Premierenpublikum zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss.