Backstage

Essay

»Ruslan und Ludmilla« oder die Welt des Michel Fokine

von Anna Beke

Wiederholte Male müsse man einer Vorstellung von »Ruslan und Ludmilla« beiwohnen, ehe sich einem alle Vorzüge der Oper erschließen; gleich jener „sehr gelehrten Bücher“, die es „viermal zu lesen gilt, um alles zu verstehen, […] alles zu bewundern“, konstatiert Journalist Ossip Senkowski in seiner Kritik der Uraufführung am 27. November 1842 im Bolschoi-Kamenny-Theater in Sankt Petersburg. Lange Zeit spaltet Michail Glinkas Märchenoper die Gemüter und hält sich das Bonmot des Komponisten Michail Wielhorski, dass es sich bei »Ruslan und Ludmilla« um eine ‚chose manquée‘ – ‚Panscherei‘ – handle. Auch Tschaikowski formulierte später geringschätzig: „Ruslan war kein Meisterwerk. Es war nur ein magisches Spektakel, begleitet von hervorragender Musik, zu schwierig für die Ausführung“.

Tatsächlich stand bereits die Gestaltung des Librettos unter keinem guten Stern: Hatte sich Glinka erhofft, Pushkin selbst – auf dessen Versepos von 1820 die fünfaktige Phantastische Oper beruht – für die Bearbeitung zu gewinnen, so wird sein Dichteridol 1837 im Duell ermordet. Daraufhin übernimmt federführend Walerian Schirkow die undankbare Aufgabe, die schwerverständliche Handlung rund um den furchtlosen Ruslan und dessen ihm entführter Braut Ludmilla in ein Opernlibretto zu verwandeln. Fünf zähe Jahre zieht sich die Entstehungszeit der Oper hin, in denen der Komponist von privaten und finanziellen Sorgen geplagt wird. Die größte Problematik bestand jedoch darin, dass »Ruslan und Ludmilla« schlicht nicht erfüllte, was man sich von Publikumsseite her erhoffte: Eine Weiterentwicklung von Glinkas erfolgreichem, stark auf patriotischem Gedankengut beruhenden Erstlingswerk „Ein Leben für den Zaren“ von 1836. Bei „Ruslan“ muss man hingegen von ‚Liebe auf den zweiten Blick‘ sprechen, da die Oper erst nach Glinkas Lebzeiten in den Kanon bedeutender russischer Opern aufgenommen und ihr entschiedener Einfluss auf die Orientalismen der russischen Musik des 19. Jahrhunderts wie auch auf die Etablierung russischer Nationalmusik generell anerkannt wurde.

 

Vom Papier zum Tanz. Von der Schrift zur Bewegung

Gelangte Glinkas Märchenoper erst zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Pushkins Frühwerk auf die Opernbühne, so stellte die erste Bühnenadaption eine Ballettfassung dar, die 1821 im Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführt wurde. Adam Gluschkowski, prominenter Schüler Charles Didelots, kam mit der Ballettversion zur Komposition von Friedrich Scholz seiner Vorliebe nach, russische Literatur choreografisch umzusetzen; zugleich hatte er frühzeitig den Wert der Tanzkunst erkannt, russisches Nationalbewusstsein zu repräsentieren und ein Volk in ihr zu einen. Die Opernadaption Glinkas von 1842 stand mit ihren finnischen, kaukasischen, türkischen und arabischen Melodien hingegen für Pluralismus ein, wie auch für die zu dieser Zeit übliche Faszination für alles Fremdartig-Exotische: Die romantische Begeisterung für eine magische Zwischenwelt voller Feen und Fabelwesen bzw. für ein nicht minder ‚phantastisches‘ Italien, Spanien oder den fernen Osten, war bezeichnend für die tiefe Sehnsucht einer Gesellschaft, sich von der oftmals schalen Realität des eigenen Daseins abzuheben und imaginäre prächtig-märchenhafte Bildwelten zu erschaffen – unter dem Terminus ‚coulour locale‘ fanden seit der Romantik märchenhafte Werke aller künstlerischer Gattungen ihren Weg auf die Bühne, in den Bücherschrank oder zumindest in die geheimen Träume. 

Hatte der Bühnenerfolg von »Ruslan und Ludmilla« mit einem Ballett eingesetzt, so waren die choreografischen Anteile der Oper wie auch der Ballettfassung Gluschkowskis im folgenden Jahrhundert verloren – ein Schicksal, das nahezu alle Tanzschöpfungen dieser Zeit ereilte. Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Glinka Oper, 1917, konnte für die Choreografie des Divertissements »Zauberschloss von Naina« mit Michel Fokine nun eine Tanzpersönlichkeit gewonnen werden, die den Vergleich mit Pushkin oder Glinka nicht zu scheuen brauchte: Als Begründer des modernen Balletts ging Fokine in die Annalen ein, dessen Name vor allem mit der legendären Tanztruppe Ballets Russes in Verbindung steht, deren Ruhm er mit seinen choreografischen Werken erst begründete.

Die Welt des Michel Fokine

Während es den Komponisten Michail Glinka einst in den Westen zog – nach Italien und Deutschland –, um dort künstlerisch ausgebildet zu werden, stellte es ein Herzensanliegen des Impresarios Sergei Diaghilew wie auch seiner beiden künstlerischen Mitstreiter Léon Bakst und Alexandre Benois dar, eine Rückverbindung östlich-russischer Kunst in den Westen zu vollbringen. Dem berühmten Auftakt des Ballets Russes-Gastspiels im Jahr 1909 in Paris ging 1898 die Herausgabe des russischen Kunstmagazins „Mir Iskusstwa“ – Die Welt der Kunst – voraus. Das Anliegen war in beiden Fällen, die gegenseitige Befruchtung westeuropäischer und russischer Kunst zu bewirken und im Falle der Ballets Russes, der erstarrten russischen Tanzkultur zaristischer Prägung neues Leben einzuhauchen.

Als Michel Fokine 1917 den Auftrag erhält, das »Zauberschloss von Naina« zu choreografieren, hatte er seine Hauptwerke – allesamt Meilensteine des Balletts – bereits erschaffen: Der Sterbende Schwan, Shéhérazade, Feuervogel oder Petruschka. Fokines choreografischer Beitrag in der Glinka Oper steht weder mit den Ballets Russes noch mit seinen Meisterwerken in Verbindung, allerdings muss deren musikalische Wertigkeit wie auch die russisch-byzantinische Jugendstil-Ausstattung Konstantin Korowins seinen höchsten ästhetischen Ansprüchen entsprochen haben. Insofern konnte Fokine mit »Ruslan und Ludmilla« an die entscheidendste Prämisse der Ballets Russes anknüpfen, Bühnenstücke als kohärente Gesamtkunstwerke aus Choreografie, Komposition, Kostüm- und Bühnenbild zu erschaffen, wie es bei Fokine als Leitbild im Jahr 1914 heißt: „Erst jetzt erschien die Einheit von Kostüm, Maske, Tanz und Pantomime. Eine völlig andere Herangehensweise an die Musik verlangte ein ernsthaftes Nachdenken über jeden musikalischen Satz. […] Alles diente der Einheit der Darstellung.“

Stellen Fokines Hauptwerke seine Ballettschöpfungen dar, so hat er neben „Ruslan und Ludmilla“ weitere Musiktheater-Werke veredelt: Die Ballettoper »Le Coq d‘Or« (1914) zur Komposition Rimski-Korsakows sowie die »Polowetzer Tänze« aus der Alexander Borodin Oper »Fürst Igor« (1909). Zwischen dieser Erfolgschoreografie Fokines und dem »Zauberschloss von Naina« lässt sich als Gemeinsamkeit feststellen, dass in beiden Fällen der Fokus auf dem Corps de ballet lag, wie Fokine in seinen Memoiren feststellte: „Die Hauptkraft der Polowetzer Tänze liegt im Tanz des Ensembles, das nicht den Hintergrund repräsentiert […], sondern kollektive, teilnehmende Protagonisten.“

Abgesehen von dieser Übereinstimmung handelt es sich bei den beiden Choreografien um zwei völlig verschiedene Werke: Besticht Ersteres mit vital-temperamentvollen Charaktertänzen der Sklavinnen und Krieger, so betört Fokine im »Zauberschloss von Naina« mit anmutig vollführtem Spitzentanz der weiblichen Gruppe, die den männlichen Protagonisten Ruslan und Ratmir mit ihren Reizen und der verführerischen Tanzkunst ihrer Sinne berauben wollen. Dies entsprach einerseits sicherlich Fokines eigener Vorliebe für das schöne Geschlecht wie vor allem der Welt des Zaubers und der Magie, für die gerade Fokine in seinen Balletten ein einzigartiges und untrügliches Gespür für Atmosphäre aufwies.

Michel Fokine in München und weltweit

So verehrt der Name Michel Fokine bis heute in der Tanzgeschichte ist, so selten ergibt sich die Gelegenheit, eines seiner Werke in München zu bestaunen: Zum ersten Mal gastierten die Ballets Russes im Jahr 1912 im Nationaltheater und zeigten mit »Cléopâtre«, »Carnaval« und »Shéhérazade« gleich drei seiner Meisterwerke. Vor exakt vierzig Jahren, 1983, widmete das Ballett der Bayerischen Staatsoper dem Choreografen einen Ballettabend, und zuletzt war als Höhepunkt des Ballets Russes-Jubiläumsjahrs 2008 die Rekonstruktion von »Shéhérazade« beim Bayerischen Staatsballett zu erleben.

Befinden sich andere der einaktigen Werke Fokines durchaus im Repertoire der bedeutendsten westlichen Kompanien weltweit oder gelangen im Rahmen von Galas von Zeit zu Zeit auf die Bühne, so ist das Lebenswerk des Choreografen in Russland selbst wenig bekannt. Die Leiterin des Michel Fokine-Archivs, Isabelle Fokine, war daher ab 1994 eine Kooperation mit dem Mariinski-Theater in Sankt Petersburg eingegangen, um die Werke ihres berühmten Großvaters auch in seiner Heimat zu etablieren: Von den über achtzig Werken Fokines kannte man dort zu diesem Zeitpunkt nur mehr ein einziges. Eine Herzensangelegenheit für Isabelle Fokine, diesen Missstand langfristig zu ändern.

Die Münchner Ballett-Akademie tanzt »Zauberschloss von Naina«

Auch in München stellt es also eine Besonderheit und Rarität dar, dass ein Werk Fokines auf die Bühne des Nationaltheaters gelangt, wie auch eine Ehre für die Studierenden der Münchner Ballett-Akademie solch eine choreografische Kostbarkeit zu tanzen. Die beiden für die Einstudierung verantwortlichen Dozierenden, der musikalische Leiter Mark Pogolski sowie Ballettlehrerin Tatjana Vogler-Nemtseva, gaben Einblicke in ihre Probenarbeit des Ballett-Divertissements »Zauberschloss von Naina«:

»Ruslan und Ludmilla« ist hierzulande eher unbekannt, allenfalls kennt man die Ouvertüre. Weshalb?

Mark Pogolski: Die Ouvertüre zu »Ruslan und Ludmilla« ist wirklich besonders, sie ist im Rossini-Stil: Glinka hat ja in Italien studiert. Als er jung war, fehlte die Möglichkeit einer professionellen Musikausbildung in Russland. Das Konservatorium wurde erst später gegründet und Tschaikowski war der erste Absolvent. Bei Glinka hört man gerade in der Ouvertüre, dass er ein europäischer Komponist ist – ein italienischer Belcanto-Komponist. In der Oper waren für Glinka ein russischer Stil, eine russische Handlung und russische Melodien allerdings schon wichtig. Aber in der Ouvertüre ist wenig davon auffindbar; sie klingt europäisch-italienisch und leicht – deshalb kommt sie so gut an.

Welchen Stellenwert nimmt »Ruslan und Ludmilla« im künstlerischen Oeuvre Glinkas ein?

Mark Pogolski: Glinka hat zwei Opern geschrieben, bereits von der Handlung her sind sie sehr unterschiedlich: Hatte »Ein Leben für den Zaren« eine politische Aufgabe zu erfüllen, lässt sich »Ruslan und Ludmilla« mit Wagner vergleichen: Es sind alle Elemente vom märchenhaften Russland vorhanden. Deswegen ist »Ruslan und Ludmilla« besonders bei Kindern beliebt. Es gibt sogar einen Zeichentrickfilm, den alle Kinder kennen. Auf der einen Seite handelt es sich also um eine Märchenwelt und auf der anderen um einen klar politischen Appell – es sind zwei grundsätzlich verschiedene Opern. Dennoch verbinden beide Werke russische Melodien mit einem europäisch-italienischen Stil.

Sie werden mit Ihrem VOLTA-Ensemble live spielen. Welche Zusammensetzung hat das Orchester?

Mark Pogolski: Wir haben aus jeder Orchestergruppe mindestens zwei Instrumente. Die Idee kommt wieder aus italienischer Tradition, da auch Verdi und andere Komponisten oft eine zweite Fassung für Salonorchester geschrieben haben. Zum Beispiel arbeitet man mit weniger Bläsern. Grundsätzlich bedeutete ein Salonorchester die Möglichkeit, ein Werk an kleineren Opernhäusern zu spielen; ein weiterer Pluspunkt ist, dass man die einzelnen Instrumente stärker heraushört. Gerade beim Ballett ist die Musik so transparent und leicht, da braucht man keine so großen Apparate – weniger Blech. Man kann mit einem Salonorchester wunderbar die tänzerischen Elemente und eine gewisse Feinheit erreichen. Zudem ist es flexibler und freier in Bezug auf Tempi und Dynamik. Diese Tradition einer zweiten Opernfassung geht auf den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück: Die Komponisten wollten ja, dass ihre Werke überall gespielt werden, und nicht in jedes Opernhaus passte ein großes Orchester.

Wie kann man sich die musikalische und tänzerische Zusammenarbeit von Ihnen beiden vorstellen?

Mark Pogolski: Zunächst werden wir zwei Wochen vor Vorstellung eine intensive Probenphase mit dem Orchester haben. Parallel laufen die choreografischen Proben mit Klavierbegleitung. Ein paar Wochen vor der Vorstellung komme ich zu den Klavierproben dazu. Eine Woche vor der Bosl-Matinee treffen wir uns alle – Tänzer, Musiker – und haben dann drei getanzte Orchesterproben plus Generalprobe.

Tatjana Vogler-Nemtseva: Im Tanz haben wir nach den Winterferien angefangen zu proben. Momentan üben wir dreimal in der Woche für die Einstudierung, danach werden die Gruppenproben auf zweimal wöchentlich reduziert. Die Soli proben dreimal pro Woche – alles muss separat geübt sein. Wenn Mark Pogolski zum Dirigieren dazukommt, wird es wieder eine Herausforderung für die Studierenden sein, da es anders klingt, als wenn die Korrepetitorin spielt. Die Studierenden müssen auf das neue Tempo achten, welches der Dirigent vorgibt. Es handelt sich um eine wichtige Zusammenarbeit von uns allen.

Frau Vogler-Nemtseva, Sie sind für die tänzerische Einstudierung verantwortlich. Wie kam es dazu? 

Tatjana Vogler-Nemtseva: Wir haben dieses Stück letztes Jahr in der Reaktorhalle gezeigt, und da ich zwölf Mädchen in meiner Gruppe habe, wollte ich mir etwas Spannendes für alle einfallen lassen. Aus diesem Grund habe ich zusammen mit meinen Studierenden nach einem Stück für die Aufführung gesucht: Zuerst hatte ich an »Das bucklige Pferdchen« von Arthur Saint-Léon gedacht, doch dann habe ich meinen Tänzerinnen zusätzlich das »Zauberschloss von Naina« gezeigt und sie haben sich hierfür entschieden. Ich war ebenfalls einverstanden, da mir die Choreografie von Fokine noch interessanter und moderner erscheint. Sie ist von der Bewegung her leicht, aber trotzdem schwierig – typisch Fokine.

Was ist für Sie beide am Werk »Ruslan und Ludmilla« besonders – musikalisch und choreografisch?

Mark Pogolski: Musikalisch gesehen ist für mich die Mischung aus Kammermusikalischem und Symphonischem besonders. Denn alle Instrumente haben eine sehr solistische Rolle, wodurch das Stück intim klingt. Es gibt zwar am Ende ‚tutti‘-Momente, aber für jedes Instrument hat Glinka wunderschöne Soli komponiert. Diese Intimität ist selten in symphonischer Musik und für ein großes Orchester.

Tatjana Vogler-Nemtseva: Überhaupt die Möglichkeit, dass meine Studierenden des 1. und 3. Jahrgangs diese Choreografie Michel Fokines zu Live-Musik im wunderbaren Nationaltheater aufführen können, ist besonders und aufregend. Vor allem hoffen wir, dass Fokine mit unserer Umsetzung zufrieden sein möge, wenn er uns ‚zuschaut‘. Das wünschen wir uns.

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