Essay
So frei und so wild wie möglich
von Serge Honegger
Marco Goecke schuf »All Long Dem Day« 2015 für die Staatliche Ballettschule Berlin. Er hatte nur einen Auftrag für ein Zwei-Personen-Stück, entschied sich dann aber mit einer ganzen Gruppe von Studierenden zu arbeiten. Dass seine choreografische Sprache ins Repertoire von klassischen Ballettschulen aufgenommen wurde, erklärt sich Marco Goecke mit der Öffnung dieser Institutionen im Verlauf der letzten dreißig Jahre für andere Stile und Themen: „Die guten Tänzerinnen und Tänzer von heute müssen alles tanzen können. Der Tänzerberuf würde keinen Sinn machen, wenn man den ganzen Tag das täte, was man bereits kennt oder kann.“
Für einige im Publikum wird möglicherweise erst auf den zweiten Blick deutlich, dass Marco Goeckes Tanzsprache ein starkes Fundament im Klassischen besitzt. Dieser Bezug zieht sich wie eine zweite Melodie durch die komplexen Bewegungsabfolgen. Diese speisen sich aus ganz unterschiedlichen Reservoirs und spiegeln Lebensrealitäten von heute. Darüber hinaus ist »All Long Dem Day« stark von den Möglichkeiten, Fähigkeiten und Interessen der damaligen Studierenden in Berlin geprägt, die sich in den künstlerischen Prozess einbringen konnten. Auf die Frage, ob er Widerstände zu überwinden gehabt habe, meint Goecke: „Nein, überhaupt nicht. Natürlich muss man auch bei solchen Schülerinnen und Schülern etwas Überzeugungsarbeit leisten, damit sie die Bewegungen ausführen. Aber das ist bei jedem Stück so. Die einen wollen mehr geben, die anderen weniger. Ich eruiere das jeweils in der Arbeit bei den Compagnien. Da merke ich jeweils recht schnell, dieser hier braucht jetzt das, und jener braucht etwas Anderes. So reihen sich dann beim Choreografieren Duette und Solos aneinander, die von den jeweiligen Situationen geprägt sind. Wenn ich mich heute wieder in das Stück einarbeite und an die Originalbesetzung von »All Long Dem Day« zurückdenke, kann ich das alles sehr genau nachempfinden, warum das so entstanden ist. Das hat mit Empathie zu tun. Ich spüre, wenn ich ein Stück mache, was jemand kann. Niemals würde ich Leute etwas tun lassen, was sie nicht können. Dann geht ein Stück meistens schief.“
Dass immer noch viele junge Menschen den Tänzerberuf ergreifen wollen, überrascht Marco Goecke und flößt ihm, wenn er an eine Compagnie wie das Bayerische Junior Ballett München denkt, größten Respekt ein. Es handelt sich um eine Tätigkeit, „wovon nichts übrigbleibt, nichts Greifbares, nichts Materielles“, wie er im Gespräch formuliert. „Das machst du nur, wenn du das hundertprozentig willst. Vielleicht ist es aber auch das größte Glück dieser jungen Leute, dass sie schon sehr früh wissen, was sie wollen, dass sie eben nicht abhängen auf der Straße und keine Zukunft für sich sehen, sondern dass sie diesen Traum und diese Leidenschaft haben. Also ein glücklicheres Leben kann es eigentlich gar nicht geben.“
Wenn er heute auf seine Choreografie »All Long Dem Day« zurückblickt, gefällt Marco Goecke der schlichte und geradlinige Duktus, der sich für ihn besonders gut mit der energiegeladenen Musik von Nina Simone verbindet. Das Spiritual »Sinnerman«, das in der Aufführung von »All Long Dem Day« zu hören ist, setzte die berühmte Jazzsängerin oft ans Ende ihrer Konzerte. In diesem Song sind es der Beat, das Tempo und die sich steigernde Struktur, die für Goecke den Tanz hervorrufen. Inhaltlich erzählt das Spiritual von Licht und Dunkelheit eines Lebenswegs. Solche mit der menschlichen Existenz verbundenen Kategorien sind es, die auf einer Theaterbühne in idealer Form zum Ausdruck gebracht werden können: „Denn die Bühne, das Licht und alle anderen Zutaten, wie die Musik, kreieren etwas Magisches. Viele Stücke, wenn du sie im Tageslicht anschauen würdest, haben gar keine Bedeutung. Das Licht ist ein unglaubliches Mittel, um ein Geschehen zu vertiefen, ohne das ich als Choreograf verloren wäre. Meine Kunst hatte immer viel zu tun mit der Dunkelheit und dem Licht.“ Dass ein Stück wie »All Long Dem Day« zum Funktionieren kommt, hat für Marco Goecke aber letztlich mit der Lust am Tanzen zu tun: „Ich sage den Tänzerinnen und Tänzern immer, dass sie sich so frei und so wild wie möglich fühlen sollen.“