Essay
UnHeaven – Dem Prozess vertrauen
von Deike Wilhelm
Federn. Weiße Federn auf dem Bühnenboden. Weiße Federn in der Luft – aufgewirbelt durch die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer. Federn-Straßen und Federn-Kreise. «UnHeaven» von Martina La Ragione besticht durch ein Meer aus Federn als Bühnenbild.
Leichtigkeit in einem sonst eher dunklen Stück. Traumhaft schön, aber auch gefährlich rutschig. Die Federn – Symbol für Schutz und Geborgenheit, Wärme und Wohlgefühl – sind wohl das einzige Element, das aus dem Ursprungskonzept der italienischen Choreografin übrig geblieben ist. «UnHeaven» – ursprünglich geplant als eine Art Naturchoreografie für „Ballett und Wildnis“ – erlebte so viele Veränderungen, dass es zu einem Stück auch über Transformation geworden ist.
Über «UnHeaven» kann man nicht schreiben, ohne auf die Zeit des Lockdown einzugehen, denn die Entstehung des Stückes ist eng mit dem Stillstand allen Lebens aufgrund der Pandemie verknüpft. Es ist ein Stück, das unter sehr schwierigen Bedingungen entstanden ist. Zugleich schenkte aber auch die Arbeit daran allen Beteiligten Hoffnung und Zuversicht, Halt und Sinnhaftigkeit. Zu Beginn des Lockdown im März 2020 haben alle sechzehn Tänzerinnen und Tänzer der Company ihr künstlerisches Zuhause in der Herzogstraße fast fluchtartig verlassen, um angesichts der drohenden Katastrophe schnellstmöglich in ihre Länder und zu ihren Familien zu reisen. Auf unbestimmte Zeit. Nach Frankreich, Spanien, Italien, Australien, USA, Kanada, Groß Britannien. Zurück zu ihren Familien, zurück in ihre Kinderzimmer. In enge Wohnungen oder große Häuser. Fern von ihrer geistigen Heimat in der Herzogstraße, wo sie alle Bühnenerfahrung und erste Berufserfahrung sammeln wollten. Zu Künstlern reifen. Stattdessen: Vereinzelung, Perspektivlosigkeit zu Beginn der vergleichsweise kurzen Karriere, Absage von den für das Vorankommen so wichtigen Vortanzen für die Mitglieder im zweiten und somit letzten Jahr. Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Der Kontakt wurde – nach dem ersten Schock – durch ein tägliches Zoom-Training von Ballettmeister Olivier Vercoutère gehalten. Zu den verrücktesten Zeiten…
Damals traf Ivan Liška, Künstlerischer Leiter des Bayerischen Junior Ballett München, eine wichtige Entscheidung: Choreografin Martina La Ragione sollte das Stück online erschaffen. Oder versuchen zu erschaffen. Denn ohne vergleichbare Erfahrung, ohne Premierentermin und somit auch ohne klares Ziel mussten sich alle Beteiligten einem vollkommen neuartigen und allen unbekannten Prozess hingeben. Und so entstand «UnHeaven» als ein Stück permanenter Transformation, das sich im Ergebnis letztlich jeglicher Sprache entzieht. In einem beispiellosen Schaffensprozess ist ein Stück jenseits von Worten entstanden, das eine enorm emotionale Kraft entwickelt und die Zuschauer in ein vollkommen eigenes Universum entführt. Wie Atome scheinen die Tänzer in diesem Universum zu wirken. Vereinzelt. Verbunden. Individuen. Jenseits von typischen, altvertrauten Paar- oder Gruppenbeziehungen. Worte der Beschreibung fehlen. Deutungsversuche scheinen unpassend. Es geht allein um das Aufsaugen dessen, was unsere Gesellschaft seit nun anderthalb Jahren vermisst hat. Seele in Bewegung. „Ich wusste selbst nicht, wohin sich das Stück entwickelt. Aber ich dachte mir immer, dass ich dem Prozess vertrauen muss,“ so Martina La Ragione.
«UnHeaven» sollte ursprünglich im Mai 2020 zur Würdigung des 50-jährigen Jubiläum des Nationalpark Bayerischer Wald im Rahmen von „Ballett und Wildnis“ uraufgeführt werden. Martina La Ragione arbeitete hierzu bereits im Jahr 2018 mit den Junioren im Bayerischen Wald. In Workshops mit intensiver Natur-Erfahrung entwickelte sie die ersten Ideen zu einer Choreografie, in der es um die Durchlässigkeit von Mensch und Natur gehen sollte. Ab Mitte März 2020 hätte sie auf dieser Basis ihre Choreografie für die Company erarbeiten sollen, Kostüme und Bühnenbild waren bereits in Planung. Und wurden verändert. Alles wurde verändert. Außer die Federn.
Der digitale Kreationsprozess sollte einen Monat lang währen. Einmal pro Woche diente der virtuelle Raum Zoom zum Austausch, für Fragen und zum Fokussieren auf das Stück. Per Zoom wurde nur gesprochen. Nicht getanzt. Diese digitalen Treffen – virtuelle Krafträume – mussten genug Inspiration geben für das weitere einsame Schaffen. Und es gelang. Die Junioren wurden stärker denn je gefordert. Wöchentlich bekamen sie Aufgaben, die sie entwickeln, filmen und Martina La Ragione per WhatsApp schicken mussten. „Zehn unterschiedliche Varianten des Schlafens oder des Spiels mit dem offenen Haar,“ forderte die Choreografin beispielsweise. Es gab kein Verstecken oder Ausweichen hinter den Kollegen. Jede und jeder war gleichermaßen gefordert. Zoom – mit den inzwischen wohl fast allen bekannten gleich großen demokratischen Kacheln – dekonstruiert Hierarchien. Einzeln entwickelten die Tänzerinnen und Tänzer in ihrem jeweiligen Zuhause dennoch gemeinsam Schritt für Schritt Sequenzen, die von der Choreografin ausgewählt, weiterentwickelt und später in das gesamte Stück eingewoben wurden. La Ragione stellt fest: „Das Stück hat viel mit dem Lockdown zu tun“. «UnHeaven» wurde Zeit in Spannung. Ein Universum, das wieder verschwindet. Wie eine Art Familientreffen, bei dem alle zusammen hängen bleiben. In einem Loch. Dauerschleife der Erinnerungen. Auch Ballettmeister Olivier Vercoutère betont, dass das Stück viel mit der Pandemie zu tun hat: Statt gemeinsam im Probenraum zu tanzen, arbeiteten die Ensemble-Mitglieder nun alleine, in den eigenen vier Wänden und mit meist wenig Raum. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer waren durch die individuellen Aufgaben gezwungen, ihre Komfortzone zu verlassen. Sie mussten alle etwas beitragen. „Es war ein demokratischer Prozess,“ resümiert Olivier Vercoutère, „bei dem die jungen Tänzer sehr viel Verantwortung für das Stück und für die Company bewiesen haben.“
Im August 2020 war die Company dann endlich – nach teils schwierigen Rückreise-Bedingungen und vierzehntägiger Quarantäne – wieder in der Herzogstraße vereint. Martina La Ragione konnte das Stück mit den jungen Tänzerinnen und Tänzern in Präsenz fertig kreieren. In drei Wochen fügte sie bestehende Sequenzen zusammen, strukturierte, veränderte, formierte und gestaltete das Stück zu einem Ganzen. Anschließend musste «UnHeaven» jedoch wieder ruhen – noch war an ein normales Kulturleben nicht zu denken. So fand die eigentliche Uraufführung – passend zum Entstehungsprozess – digital im Rahmen der Montagsstücke der Bayerischen Staatsoper im Februar 2021 statt. Mit enorm hohem Zuspruch und großem virtuellen Erfolg.
Wenn «UnHeaven» in dieser Spielzeit endlich live vor Publikum aufgeführt wird, dann ist die Besetzung zum Großteil eine neue, konnten glücklicherweise doch die meisten der bisherigen Ensemble-Mitglieder trotz schwieriger Umstände ein Engagement finden. Martina La Ragione kam abermals zur Einstudierung nach München. Und auch dieses Mal veränderte sie wieder einiges: statt ursprünglich zwölf werden nun alle sechzehn Mitglieder tanzen. Außerdem tauschte sie das Lied zu Beginn aus – denn dieses „soll biographisch mit der Tänzerin verknüpft sein.“ Die Transformationen gehen also weiter. Für Olivier Vercoutère ist das Stück nun ein anderes. „Gleich, aber auch anders, da es stark von der Persönlichkeit der jeweiligen Tänzer lebt.“
Mit all seinen Veränderungen und Prozessen ist «UnHeaven» ein Stück, das die Erfahrungen der Pandemie in sich trägt. Als Zuschauer erlebt man Schichten, die sich fast nur aus dem Entstehungsprozess heraus nachvollziehen lassen. Jedoch auch ohne Kenntnis darüber emotional tief berühren. Natur. Kultur. Gesellschaft. Einsamkeit. Entwicklung. Stillstand. Wie ist es möglich, trotz täglichem Stillstand Neues zu erschaffen? Wie überlebe ich in der Gesellschaft und wie überleben wir gemeinsam? Wie funktioniert Gemeinschaft im Stillstand der Zeit? So wie die Federn für Leichtigkeit in diesem Stück stehen, so war die Arbeit an der Choreografie ein Zeichen der Hoffnung in der dunklen und perspektivlosen Zeit des Lockdown. Die weißen Federn stehen aber auch für das Reine, das Neue. Wie leben wir weiter nach dem Stillstand? «UnHeaven» war eine wichtige Erfahrung für die Company im Lockdown. Die Beteiligten erlebten eine neue Art von Verantwortung. Sie mussten offen bleiben für permanente Veränderungen. Hoffnung und Zuversicht bewahren. Und durchlässig bleiben für das, was geschieht. Dem Prozess vertrauen. Auf eine Art eine heilsame Erfahrung, die bis in die Herzen der Zuschauer wirkt.