Backstage

Essay

Wir sind Tanz

von Deike Wilhelm

Tanzen verbindet. Tanz ist Kommunikation. Tanz ist Berührung. Tanz ist Gemeinschaft. Nach zwei Jahren Pandemie – nach Abstandsgeboten und Social Distancing – ist unsere Sehnsucht nach Begegnung, nach Gemeinschaft, nach Berührung groß. Wir sind soziale Wesen, wir brauchen einander, wir brauchen Gesellschaft und Räume, in denen wir uns begegnen können. Solch ein Raum ist das Theater.

Im gemeinsamen Erleben einer Vorstellung sind wir miteinander verbunden. Unterschiede zwischen uns spielen dabei keine Rolle mehr. Wir verbinden und identifizieren uns mit dem, was auf der Bühne geschieht. Wir fühlen uns ein in das, was wir sehen. Und dieses Einfühlungsvermögen in andere zeichnet uns als Menschen aus. Es ermöglicht uns überhaupt erst Gemeinschaft. Im Tanz erleben wir Leichtigkeit, Schönheit, Berührung, Umarmung, Seele in Bewegung. Es ist eine Kunstform, der das Spiel von physischer Nähe und Distanz, das uns nun seit zwei Jahren beschäftigt, immer schon inhärent ist. Im Tanz erleben wir all das, was unser Herz nach zwei Jahren Pandemie und angesichts der internationalen Ereignisse so sehnlich begehrt. Wir verbinden uns mit den Menschen auf der Bühne und mit den Menschen im Zuschauerraum. Erfahren gemeinsam Gefühle und Geschichten. Erleben Gemeinschaft.

Unsere Zeit braucht den Tanz mehr denn je als Kunstform ohne Worte. So viel wurde in den letzten zwei Jahren gesprochen, diskutiert, wissenschaftlich belegt und sachlich argumentiert. Mit Worten jedoch werden wir unserer zunehmend komplexen Gesellschaft nicht mehr gerecht. Deshalb ist Tanz für unsere Zeit so wichtig. Heilsam. Auch Maged Mohamed, Choreograf von «Appalachian Spring», betont, dass in seiner Kreation Schönheit und Hingabe im Vordergrund stehen. Musik in Bewegung, entstanden aus Momenten der Verbundenheit im Studio. Wir brauchen als Gesellschaft Gemeinschaft und Kommunikation, beides Aspekte, die den Tanz ausmachen. „Tanz ist Kommunikation,“ sagt Ensemblemitglied Lorien Ramo Ruiz. „Ich komme aus Spanien, bin sehr sozial und brauche immer Menschen um mich herum. Deshalb finde ich es so schön, dass wir hier zusammen leben.“ Tänzer kommunizieren miteinander und sie kommunizieren mit dem Publikum. Das sei „Sinn und Zweck im Tanz,“ wie Ivan Liška betont. „Wir wollen das Publikum erreichen.“ Das Ziel ist dann erreicht, wenn das Publikum berührt ist und das in seiner Begeisterung, in seiner Stille und seinem Applaus zeigt. Dann hat Kommunikation stattgefunden, dann war Gemeinschaft erfahrbar. 

Die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Ballett München haben das Glück, Gemeinschaft in besonderer Weise zu erleben. Sie arbeiten täglich den ganzen Tag miteinander: Im Training und in Proben, als Solisten, als Paare, im Trio oder als Ensemble. Ihre Lebenswelt kreist Tag und Nacht um den Tanz und um die Gemeinschaft, denn sie leben zudem auch alle im Wohnheim der Heinz-Bosl-Stiftung in der Herzogstraße 3. In insgesamt 45 Zimmern auf vier Etagen lebt der Tanznachwuchs – Mitglieder des Bayerischen Junior Ballett München und Studierende der Ballettakademie der Hochschule für Musik und Theater. Die sechzehn Mitglieder des Bayerischen Junior Ballett München leben auf zwei Etagen verteilt. Pro Etage teilen sie sich eine Küche, die – wie in jeder Wohnung – das Herzstück der Gemeinschaft ist. „Wir kochen oft zusammen, reden dabei, essen gemeinsam, sitzen zusammen oder schauen Videos,“ erzählt Zofia Wara-Wasowska. Auch die Freizeit gestalten sie gerne gemeinsam, wie die polnische Tänzerin berichtet: „Sonntags gehen wir oft zusammen ins Museum. Wir gehen gerne in den Englischen Garten, zu Ballettvorstellungen, feiern zusammen Parties oder unternehmen besondere Dinge, wie kürzlich ein Besuch im Escape Room.“ Doch auch die gegenseitige Unterstützung spielt eine Rolle. So helfen sie sich untereinander beim Erstellen von Bewerbungsvideos für die Zukunft.

Weihnachten haben die jungen Menschen ohne ihre Familien im Wohnheim zusammen gefeiert – jeder hat dazu ein traditionelles Weihnachtsgericht aus der Heimat gekocht und alle haben sich gegenseitig Weihnachtslieder aus ihren Ländern vorgespielt. „In Spanien haben wir an Silvester den Brauch, dass wir zwölf Weintrauben essen. Das haben wir zusammen gemacht. Darüber war ich sehr glücklich,“ erzählt Lorien. Es ist eine Gemeinschaft, die über kulturelle Unterschiede hinweg funktioniert, getragen von der gemeinsamen Leidenschaft für das Ballett.

Die Heinz-Bosl-Stiftung beschäftigt momentan drei Sozialpädagogen und einen Gitarrenlehrer – hauptsächlich zur Betreuung der Minderjährigen aus der Ballettakademie. „Die Angebote stehen aber allen offen,“ so die leitende Sozialpädagogin Viola Kleinfelder. Momentan lernen sechs Bewohner Gitarre und sieben Personen bei der ehrenamtlichen Mitarbeiterin Dorle Olszewski deutsch. Es werden Spiele-Abende angeboten, Ausflüge organisiert oder der Garten gemeinsam gestaltet. Ida Keller sorgt für das Haus und seine Bewohner. Sie berichtet, dass die jungen Tänzerinnen und Tänzer am Wochenende auch gerne zusammen feiern. Das ein oder andere Mal muss sie dann auch um Ruhe bitten. Gegenseitige Rücksichtnahme ist in einer Gemeinschaft genauso wichtig wie das Verständnis für die Bedürfnisse der anderen. So hat BJBM Ensemble-Mitglied Auguste Marmus, der abends täglich gerne auf seiner Geige übt, von allen Kollegen einen Dämpfer zum Geburtstag bekommen. „So kann er jeden Tag üben und stört uns nicht,“ erzählt Lorien aus Spanien lachend. 

Solch ein enges Zusammenleben in Arbeit und Freizeit lehrt Gemeinschaft. Zofia aus Polen bezeichnet diese Welt als eine „Bubble“, eine Blase, in der sie leben: „Wenn es zwischen uns Schwierigkeiten gibt, spürt man diese Spannungen natürlich. Es ist schwer, wenn wir uns missverstehen. Aber wenn wir diese Konflikte gemeinsam bewältigen, lernen wir auch davon. Unsere Beziehungen zueinander werden umso stärker. Es ist wichtig, dass wir lernen, einander wahrzunehmen, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen und wie wir Empathie für andere empfinden.“ Damit trifft die 19jährige Tänzerin den Kern dessen, was der Psychologe Alfred Adler, der den Begriff „Gemeinschaftsgefühl“ geprägt hat, darunter versteht: „Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen.“

Die Liebe zum Ballett verbindet diese jungen Menschen über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg. Lorien, der sein Elternhaus bereits mit 13 Jahren für das Ballett verlassen hat und in das Internat der Ballettschule in Valencia gezogen ist, sagt: „Im Ballett haben wir eine besondere Beziehung zueinander, weil wir alle die gleiche Leidenschaft haben. Wir sind alle bereit, hart zu arbeiten, haben einen Fokus, weil wir wissen, was wir in unserem Leben wollen.“ Ihm ist dabei wichtig, dass sich alle für eine gute Atmosphäre in der Gruppe einsetzen und jeder einzelne Verantwortung für die Gruppe übernimmt: „Bevor ich das Studio betrete, besinne ich mich. Es ist, wie wenn ich in die Kirche gehe. Es ist mein Raum. Und der soll sehr positiv sein. Das ist für mich beim Tanzen enorm wichtig. Wenn es mir nicht gut geht, fällt mir das Tanzen schwer. Deshalb kümmere ich mich immer um eine gute Atmosphäre.“

Auch wenn in unserer Gesellschaft zunehmend von Vereinzelung und Individualisierung zu lesen ist, so sind wir als Menschen trotz allem soziale Wesen. Wir brauchen einander. Das hat die Pandemie so deutlich wie selten zuvor etwas gezeigt. Gemeinsam ist mehr möglich. Wir suchen ein Umfeld, das uns als Individuum gedeihen lässt. Das genügend Freiraum zur Entfaltung lässt und gleichzeitig die eigene Entwicklung günstig beeinflusst. Gemeinschaft benötigt aber auch die Verantwortung der einzelnen für das Gemeinsame. Es ist das Gegenteil von Konsumgesellschaft. Es fordert das Engagement der einzelnen ein. Übertragen auf die Bühne und das Theater bedeutet dies, dass die Tänzer ihr Publikum genauso brauchen, wie die einzelnen Zuschauer das restliche Publikum und die Bühne. Das innere Engagement des Publikums während einer Vorstellung schafft erst das Band, das die Tänzer auf der Bühne spüren. Die Zuschauer sind Teil dieser gemeinsamen Erfahrung. Wir alle sind Tanz.