Essay
Wir sprechen keine Worte – aber viele Sprachen!
von Anna Beke
Die Studierenden der Münchner Ballett-Akademie lernen ebenfalls von Kindesbeinen an mit ihrem Körper und der Schönheit ihrer Bewegungen parallelisiert zur Musik zu sprechen; doch außerhalb des Ballettsaals haben sie auch verbal einiges zu sagen – und zwar in vielen Sprachen!
Möchte man das Wesen des Balletts mit wenigen Worten umschreiben, so könnte dies mit der Aussage versucht werden, dass es sich um eine nonverbale Kunstform handelt, welche in jedem Augenblick nach größtmöglicher visueller Schönheit des Körpers und der Bewegungen strebt, jedoch in dem Moment schon wieder vergangen ist, in dem sie entstanden war. Marius Petipas und Lew Iwanows Meisterwerk «Schwanensee» von 1895 enthält in vier Akten und drei Stunden Spieldauer kein einziges gesprochenes Wort. Dennoch fasziniert es das Publikum seit nahezu 125 Jahren mit der vollendeten musikalischen Komposition Tschaikowskis, mit welcher die auf Perfektion zielende getanzte Bewegung der mannigfaltigen choreografischen Handschriften in Einklang zu stehen versucht. Die Studierenden der Münchner Ballett-Akademie lernen ebenfalls von Kindesbeinen an mit ihrem Körper und der Schönheit ihrer Bewegungen parallelisiert zur Musik zu sprechen; doch außerhalb des Ballettsaals haben sie auch verbal einiges zu sagen – und zwar in vielen Sprachen!
Sprichwörtlich von überall her kommen die angehenden Tänzer, um in München zu studieren – neben Deutschland momentan aus den USA, Japan, Australien, der russischen Föderation, Ukraine, Mongolei, Kroatien, Litauen, Moldau, Polen, Rumänien, Spanien, Italien, Frankreich und Irland. Kulturelle Diversität ist daher ein Schlagwort, das für die Tanzstudierenden sowie die Kunstform Ballett an sich steht; eine, welche als Konglomerat verschiedener Länder Europas entstanden war, sich im Laufe der Jahrhunderte etabliert hat und nun rund um den Globus ihre Existenz feiert.
Ein anderes Thema, welches mit dem Weltbürgertum von Tanzschaffenden einhergeht, ist das der Heimat bzw. deren Verlust. In kaum einem anderen Beruf fällt die Entscheidung so früh, diesen künstlerischen Weg einzuschlagen, verlässt man in vielen Fällen seine Familie noch im Kindesalter und kehrt zuweilen nie mehr endgültig zu ihr zurück. Doch Heimat ist bekanntermaßen dort, wo das Herz ist, und dieses schlägt bei Tänzern besonders für den Tanz – Wurzeln werden dort geschlagen, wo man seine Ausbildung und später ein Engagement erhält, häufig in verschiedenen Ländern und an mehreren Orten. Auch wenn Tanzschüler schon in der Jugend lernen, auf sich selbst angewiesen zu sein – was eine neugewonnene Freiheit und Eigenständigkeit, aber auch Verantwortung bedeutet –, ist die Sehnsucht nach dem alten Zuhause oft groß: Für die 16-Jährige Ukrainerin Aleksandra ist Heimat der Ort, welcher „der wärmste im Herzen“ ist, und für ihre Freundin Yelizaveta „für immer ihr eigentliches Zuhause“. Ana aus Kroatien bedeutet Heimat gar „alles auf der Welt“, und doch bezeichnet sie den Tag, an dem sie die Aufnahmeprüfung in München erfolgreich absolviert hat, als „glücklichsten in ihrem Leben“ – als „Erfüllung eines Lebenstraums“. Mit ihrem gemeinsamen Lebensziel, klassische Tänzer zu werden, sind die jungen Menschen ohnehin versiert darin, sich schnell an neuen Orten zurecht und in ihren Gleichgesinnten aus aller Welt eine „zweite Familie“ zu finden, wie Ludovica aus Livorno versichert: „Zwei Heimaten“ habe sie nun, „eine in Italien und eine in München“. Umso schöner, wenn sich das alte Zuhause im neuen finden lässt, wie bei Alice aus Dublin, die beim St. Patrick‘s Day erstmals auf die irische Community in München traf – ein Erlebnis, das sie berührt hat. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus Japan oder Australien, die höchstens ein- bis zweimal im Jahr nach Hause reisen können, fühlt sie sich auch nie so weit entfernt von ihrer irischen Heimat, die sie in wenigen Flugstunden erreichen kann.
Auch wenn Heimat „nicht für jeden dasselbe bedeutet“, wie die Rumänin Mara konstatiert, sind sich alle Studierenden einig, dass es ihnen das kosmopolitische, weltoffene München leichtmacht, hier schnell ein neues Zuhause zu finden. Als schöne und sichere Metropole mit hohem Lebensstandard wird die bayerische Landeshauptstadt beschrieben, die zum Ausflug ins Grüne oder bayerische Umland mit Seen und Bergen lockt. Wobei der gebürtige Münchner Marlon betont, dass die Ballett-Akademie ja im Herzen Schwabings und damit ohnehin dem „schönsten Teil der Stadt“, wenn nicht gar Bayerns, liegt. Angetan sind die Tanzstudenten auch von der kulturellen Vielfalt, welche München zu bieten hat, der Vielzahl an Museen und Theatern, und dem hohen Stellenwert, welcher dem Tanz eingeräumt wird. Ballett hat nicht nur ein höheres Ansehen, als etwa in Christians Heimat Moldawien, und wird stärker staatlich gefördert, als es in Italien der Fall ist, „wo selbst größere Theater um ihren Fortbestand bangen“, wie Eleonora aus Treviso bedauert, sondern Tanz ist hier eine Kunstform, die allen Interessierten offensteht. Während Mara versichert, dass es in Rumänien nur „einer sozialen Klasse“ möglich sei, Theatervorstellungen zu besuchen, ist Risa aus Tokyo positiv erstaunt darüber, wie „erschwinglich Theaterkarten“ in Deutschland seien. Alessandra aus Bergamo wiederum betont, dass in ihrer Heimatstadt gar keine Möglichkeit bestehe, sich Ballettaufführungen anzusehen, weshalb sie erst eine Stunde fahren müsse, um diesen in der berühmten Scala in Mailand beizuwohnen. Drei Stunden Fahrzeit nahm hingegen Ruisa aus dem japanischen Kōbe einst täglich auf sich, um zu ihrer Ballettschule zu fahren, denn, so ergänzt ihr Landsmann Tomoya, in Japan gibt es „keine staatlichen Ballettschulen“. Die hellen, großzügigen Räumlichkeiten der Ballett-Akademie, fußläufig erreichbar vom Prinz-Joseph-Clemens-Studentenwohnheim der Heinz-Bosl-Stiftung, sind für den 19-Jährigen daher ein Traum.
Das Einzige, was im Grunde alle Studierenden an ihrer neuen Heimat ändern würden, sind die geschlossenen Geschäfte am Sonntag, laut Alessandra, „ihrem einzigen freien Tag in der Woche“. Ließe sich dann noch das „Meer der Toskana“ hinzuzaubern, so Ludovica, und das „ganzjährig sonnige Wetter“ Kaliforniens, wie Olivia aus den USA ergänzt, wäre München einfach perfekt.
Der eigentliche Grund, weshalb die Studierenden aus aller Welt hierherkommen, ist ja aber weder das bayerische Meer, noch der weißblaue Himmel, sondern es ist die Tanzausbildung selber, auf welcher „den ganzen Tag lang der Fokus liegt“, wie Ana feststellt, und deren Vielfältigkeit und hohe Professionalität sie schätzen. Die Ukrainerin Anna betont, dass die „Ballett-Akademie in nur einem Jahr zu ihrem zweiten Zuhause geworden sei“, ein Umfeld, in dem sie auf hohem Niveau, aber ohne übertriebenen Leistungsdruck lernen könne. Risa ist glücklich darüber, dass hier „nicht nur auf Balletttechnik, sondern ebenso sehr auf Expressivität und Musikalität geachtet werde“; und Mara erklärt, wie wichtig die Erfahrung für die Studierenden sei, nicht nur exzellente Tanzvorstellungen des Bayerischen Staatsballetts zu sehen, sondern mehrmals im Jahr auch selber auf der Bühne des Nationaltheaters und anderer Theaterhäuser zu tanzen. Die „große Bandbreite“ an Tanzstilen und vielfältige theoretische Annäherung an die Kunstform Ballett begeistern wiederum Alice, während die hiesige Ausbildung für Aleksandra „einen Ort“ darstellt, der „Kommunikation auf Augenhöhe“ betreibt und die Möglichkeit gibt, „sich selbst auf bestmögliche Weise zu entfalten“ – als „zukünftige vollausgeformte Persönlichkeit“. Dies bestätigt auch Edvinas aus Litauen, den die Hingabe und Disziplin begeistern, mit welcher all seine Tanzkollegen täglich im Ballettsaal an sich arbeiten würden, etwas, was den jungen Tänzer selber motiviert und ihm immer wieder das eigene Ziel vor Augen hält.
Ludovica, die in diesem Jahr gemeinsam mit Alessandra neben ihrem täglichen Ganztags-Tanztraining ihr Abitur per Abendschule absolviert hat, und daher selten vor Mitternacht schlafen gehen konnte, ist sich abschließend sicher: Auch, wenn das, „was wir und unsere Kommilitonen täglich tun, nicht einfach ist, und nicht jeder solch ein Leben führen“ könnte, „es uns doch dabei hilft, täglich über uns hinaus zu wachsen.“ Und selbst, „wenn wir kein normales Leben wie andere Teenager“ haben, wird es uns in unserer „Zukunft ganz bestimmt helfen“ – wie auch immer diese aussehen und wo diese stattfinden wird.
Der vorliegende Original-Artikel basiert auf Interviews, welche im Sommersemester 2019 mit den Bachelor-Studierenden der Münchner Ballett-Akademie hierfür geführt wurden.