Interview
Tierische Instinkte und Operationen am offenen Herzen: Lior Tavori im Gespräch
von Terence Kohler
In der Vorbereitungsphase seiner neuen Kreation für die diesjährigen Herbstmatineen spricht der Choreograf Lior Tavori mit Terence Kohler über seine Wurzeln im israelischen Volkstanz, über tierische Improvisationen im Studio und über die Ehrlichkeit des tanzenden Körpers.
Terence Kohler (TK): Tanz… Warum Tanz?
Lior Tavori (LT): Tanz ist Leben. Ich weiß das, seit ich als Vierjähriger zu Hause herumgesprungen bin. Meine Eltern haben mich immer ermutigt, etwas damit zu machen. Ich kann mir eine Welt ohne Tanz nicht vorstellen. Ich brauche Tanz, um meine Gedanken und Gefühle auszudrücken; ich brauche ihn wie andere Menschen Sauerstoff. Er ist ein wichtiger Teil meiner Identität, nicht nur ein Beruf.
TK: Wie würdest du dich also beschreiben?
LT: Ich bin Lior und ich bin Choreograf. Diese beiden Dinge sind untrennbar miteinander verbunden. Schon als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger habe ich Tänze gemacht. Nicht als Profi, aber ich habe Freunde nach Hause eingeladen und gesagt, „Lasst uns das ausprobieren.“ Wir haben mit Strukturen im Raum experimentiert und versucht, die Bilder, die ich im Kopf hatte, in Realität zu verwandeln. Ich erinnere mich, dass unsere Lehrerin eines Tages fragte, „Wer von euch möchte Choreograf werden?“ Ich war zu schüchtern, um mich zu melden, aber innerlich wusste ich, dass ich es versuchen musste. Als ich zum ersten Mal einen Tanz schuf, fühlte ich mich großartig – als wäre ich über mich selbst hinausgewachsen. Da wusste ich, dass ich das täglich tun muss.
TK: Du hast im Volkstanz angefangen. Kannst du erklären, was Volkstanz für dich bedeutet und wie er deine künstlerische Praxis beeinflusst hat?
LT: Ich habe als Kind eine Ausbildung zum Volkstänzer gemacht. Es hat in einem Gemeindezentrum mit ein paar Grundschritten angefangen. Viele meiner Freunde waren auch in der Gruppe, so dass wir neben dem Tanzen auch einfach zusammen Spaß hatten. Als wir besser wurden, begannen wir, in Israel und im Ausland aufzutreten. So hatte ich im Alter von zehn, elf, zwölf Jahren die Möglichkeit, an unglaubliche Orte wie Japan zu reisen. Das hat mir viel gegeben, aber es bedeutete auch, dass ich mir über einige Dinge sehr früh klar werden musste. Zum Beispiel: „Wer ist Lior in dieser Gruppe?“ Wenn ich auf die Bühne ging, repräsentierte ich nicht nur mich selbst, sondern auch mein Land. Israel ist keine Nation mit einer langen Geschichte, und wir sind immer noch dabei herauszufinden, wer wir als Israelis eigentlich sind. Es gibt so viele verschiedene Einflüsse aus der ganzen Welt, dass es sicher noch hundert Jahre dauern wird, bis wir eine solide Identität aufgebaut haben. Viele Menschen waren überrascht, dass wir normalerweise barfuß tanzen. Wenn wir in anderen Ländern auf Tour oder bei Tanzfestivals zu Gast waren, wurden wir oft gefragt: „Wo sind eure traditionellen Schuhe?“ Wir antworteten: „Als wir unser Land – Israel – bekamen, wollten wir es fühlen. Deshalb tanzen wir barfuß. Wir ziehen unsere Energie aus dem Boden.“
Eine wichtige Erfahrung für mich als junger Volkstänzer war der Paartanz. Immer ein Junge und ein Mädchen. Kreistänze waren auch sehr wichtig. Im Kreis sind alle gleich; es gibt keine Anführer der Gruppe. Ich denke, das hat mit der Art zu tun, in der unsere Gesellschaft in Israel aufgebaut wurde. Es durfte keine Unterschiede zwischen Menschen geben, die aus dem Jemen, aus Jugoslawien oder aus den USA kamen. Alle sollten gleich sein.
TK: Mich interessiert, wie du deine Rolle als Individuum innerhalb dieser Volkstanzgruppe empfunden hast.
LT: Das ist eine gute Frage. Als ich in der Gruppe tanzte, habe ich mich nie wirklich wie ein Individuum gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt. Oder sagen wir es so: Im Volkstanz gibt es kaum Raum für Fragen. Der Tanz „Jerusalem“, zum Beispiel, muss auf eine ganz bestimmte Art getanzt werden, so dass die Liebe für Jerusalem und die Sehnsucht nach Jerusalem rüberkommen. Einige Jahre später habe ich begonnen, anders über viele der Themen zu denken, mit denen ich als Kind konfrontiert wurde. Israel, Jerusalem, die Palästinenser … es gibt viele Probleme, die ich hinterfragen möchte. Und es geht dabei nicht nur um Politik. Liebe, zum Beispiel, findet im Volkstanz immer nur zwischen einem Jungen und einem Mädchen statt. Ganz traditionell. Als ich älter wurde, habe ich auch das in Frage gestellt. Ich wollte wissen, ob es möglich ist, modernen Volkstanz zu machen und diese Regel – und viele andere Regeln – zu brechen. Kann ich anders über Jerusalem sprechen? Mich interessieren diese unantastbaren Themen.
Als ich angefangen habe, im zeitgenössischen Tanz zu arbeiten, wurde der Volkstanz ironischerweise zu einem unantastbaren Thema. Ich hatte das Gefühl, dass man stigmatisiert wird, wenn man sagt, dass man Volkstänzer ist. Es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass meine Ausbildung mir mein Handwerkszeug gegeben hat, und dass ich es benutzen kann, um Dinge zu hinterfragen, die uns alle beschäftigen, überall auf der Welt. Auch in Israel, natürlich, denn meine Arbeit ist immer eng mit Israel verbunden. Es gibt so viele Quellen der Inspiration. Jedes Mal, wenn ich im Studio neue Tänzer und Tänzerinnen treffe und sie sich mit Themen beschäftigen, die ich vorschlage, kommt etwas ganz Neues heraus. Das ist sehr interessant.
TK: Was für Themen bringst du in den Arbeitsprozess ein? Geht es um Identität?
LT: Ich interessiere mich für Geschichte, zum Beispiel für die Römer oder für griechische Bildhauerei, und ich versuche, Parallelen zu unserer heutigen Zeit zu ziehen. Einen Dialog zwischen den Zeiten herzustellen, sozusagen.
Ein anderes Thema ist „Überleben“. Israel ist kein einfaches Land zum Leben. Manchmal beschreibe ich es als „Überlebensmodus“. Die Leidenschaft und die Bereitschaft, mit der Tänzer und Tänzerinnen im Studio arbeiten, ist nicht selbstverständlich. Vor zwei Monaten zum Beispiel probten wir, als es plötzlich Raketenalarm gab. Also gingen wir in den Bunker, kamen zurück und begannen wieder zu tanzen. Ich dachte: „Das ist wie ein Krieg, aber wir arbeiten trotzdem“. Man trinkt Kaffee, geht in den Bunker, geht wieder an die Arbeit – das ist unsere Realität. Dieses Thema steht im Mittelpunkt meiner jüngsten Arbeiten. In den letzten Jahren habe ich mich auch mit Gender-Themen und Gender-Fluidität beschäftigt.
TK: Wie würdest du die Bewegungsqualitäten beschreiben, nach denen du suchst?
LT: Ich habe zwei verschiedene Ansätze: Einerseits suche ich nach einer sehr extremen, intensiven Körperlichkeit. Als würde man sich durch Honig bewegen, so dass jede Bewegung große Anstrengung erfordert. Der andere Ansatz ist weniger körperlich, sondern eher mental. Ich versuche, eine Verbindung zu den Instinkten aufzubauen – zur Sexualität, zur Tierwelt. Vielleicht komme ich ins Studio und sage: „Okay, Leute, wir sind nicht in einem Tanzstudio, wir sind im Zoo.“ Und dann fangen wir an, Dinge zu entwickeln. Evolutionär gesehen sind wir immer noch weitgehend Säugetiere. Wenn wir hungrig sind, müssen wir essen. Oder beißen. Für mich ist das Studio ein Ort der Freiheit, an dem ich Dinge tun kann, die ich draußen nicht tun darf oder nicht tun will. Man kann sich dort mit Dingen zu beschäftigen, vor denen man im wirklichen Leben vielleicht Angst hat.
TK: Welche Rolle spielen Provokationen für dich im Studio?
LT: Meinst du im Schaffensprozess?
TK: Ich denke an einen Moment in den Proben, in dem du auf eine Tänzerin zugegangen bist und sie mit einer Bewegung konfrontiert hast.
LT: Jeder kreative Prozess ist komplett anders. In den ersten Tagen lerne ich die Tänzer und Tänzerinnen kennen, ihre Lebensumstände, ihre Leidenschaften, ihre Vorlieben… und dann stoßen wir langsam in tiefere Ebenen vor und entdecken neue Dinge, die sie mit mir teilen können. Wir benutzen zum Beispiel Schreibaufgaben, bei denen sie fünf Minuten lang alles aufschreiben, was ihnen in den Sinn kommt. Diese Texte benutze ich dann, um Soli für sie zu kreieren.
Oder ich arbeite vielleicht mit einer Tänzerin im Studio und setze sie unter Druck, etwas zu tun, und danach tanzt sie ganz anders. Weil ihre Muskeln nun anders arbeiten. Oder weil sie in einem anderen mentalen Zustand ist. Oder weil sie richtig wütend auf mich ist und ihre Bewegungen dadurch eine ganz andere Wucht haben. Es ist ein bisschen wie eine Operation am offenen Herzen.
Anschließend bitte ich die Tänzerin um Feedback, wie sie sich in diesem Moment gefühlt hat. Es ist also immer ein Dialog, ein Prozess des Gebens und Nehmens. Dabei können auch die anderen Tänzer und Tänzerinnen in der Gruppe ihre eigenen Erfahrungen einbringen. Diese Ebene des Austauschs ist ein sehr wichtiger Teil des Entstehungsprozesses eines neuen Stücks.
TK: Du bist jetzt seit drei Wochen dabei, für diese jungen Tänzerinnen und Tänzer, die gerade mit der Ausbildung fertig sind und eine starke klassische Technik haben, ein Stück zu schaffen. In diesem Stadium des Schaffensprozesses geht es darum, dass sie wirklich als Menschen präsent sind und wahrgenommen werden. Was interessiert dich am Bayerischen Junior Ballett München?
LT: Sie sind so jung! Das bedeutet auch, dass sie noch keinen langen künstlerischen Werdegang und keine etablierte Praxis haben. Sie sind erst dabei, ihre Identität als Tänzer und Tänzerinnen aufzubauen. Wir sind jetzt am Ende der dritten Woche und einige fangen wirklich an, sich zu öffnen. Gestern in der Probe gab es ein paar Momente in denen ich richtig schockiert war – ich hätte nie gedacht, dass wir so weit kommen würden. Ich bin mir sicher, dass die Methoden, die wir gemeinsam entwickeln, ihnen in Zukunft helfen werden, neue Bewegungssprachen mit Mut und Neugierde anzugehen.
TK: Kannst du schon sehen, wo das Stück hinführt?
LT: Ja. Aber, weißt du… der Schaffensprozess ist ganz furchtbar für mich. Es ist fast wie ein Albtraum. Manchmal komme ich ins Studio und weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann kaum sprechen. Dann kommt plötzlich eine Idee, wir probieren sie aus und verlieben uns in sie… und dann, zwei Tage später, sehe ich, dass sie nicht gut ist und ich sage, „Let’s cut it”. Für mich ist der Schaffensprozess so, als wäre ich verliebt, aber gleichzeitig ist da der Teufel, der ständig sagt, „Nicht gut genug!“. Es ist beängstigend.
TK: Kannst du etwas über deine Arbeit mit Itamar für die neue Musik des Stücks erzählen?
LT: Ja. Itamar Gross ist der Komponist für dieses Stück. Ich wollte einen Soundtrack, der ein Spannungsfeld zwischen Aspekten des Volkstanzes und des zeitgenössischen Tanzes aufbaut. Ich hatte bereits vor Jahren mit Itamar an einigen Volkstanzstücken gearbeitet und bat ihn deshalb, die Musik für dieses Stück zu machen. Die Musik ist noch nicht fertig; sie ist in Arbeit, aber das Interessante daran ist, dass einige der „Volkstanz“-Sequenzen sich im Studio verändert haben. Ich hörte plötzlich etwas Neues darin – eine Art „Folk-Flavour“, aber mit ganz vielen zeitgenössischen Anklängen.
Die Arbeit mit Itamar ist interessant, weil es ein Geben und Nehmen ist: Er sieht sich Videos von unseren Proben an, schickt mir eine neue Version der Musik, dann sprechen wir darüber, ändern etwas, probieren es aus. Für mich als Choreograf ist es eine Gelegenheit, die Atmosphäre der Musik perfekt an die Bewegungen anzupassen. Die Musik dient dem Tanz, das ist ungewöhnlich!