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Musik

Danse à la russe: Balanchines »Allegro brillante« nach Tschaikowskys 3. Klavierkonzert

von Harold Hodeige

Peter Tschaikowskis Erstes Klavierkonzert zählt nicht nur zu seinen beliebtesten Werken, sondern zu den meistgespielten Konzerten überhaupt (zusammen mit seinem berühmten Violinkonzert). Dass der russische Komponist noch drei weitere Stücke für Klavier und Orchester geschrieben hat, ist weniger bekannt, wobei zwei von ihnen – die zweisätzige Konzertfantasie G-Dur op. 56 sowie das Dritte Klavierkonzert Es-Dur op. 75 – salopp gesagt, als »Abfallprodukte« verworfener Symphonieprojekte entstanden.

Peter Tschaikowski (1840 – 1893)

»Klavierkonzert Nr. 3 Es-Dur« op. 75
ALLEGRO BRILLANTE – CADENZA A SUONARE CON BRIO ET ANIMA – ALLEGRO BRILLANTE (TEMPO 1)

Das Material der Konzertfantasie gehörte nämlich zunächst zum Umfeld der Dritten Orchestersuite. Und das Klavierkonzert Nr. 3 basiert auf Teilen einer unmittelbar vor der »Pathétique« skizzierten Symphonie in Es-Dur, die Tschaikowski mit dem Titel »Das Leben« überschrieb und mit programmatischen Hinweisen versah: »Erster Satz – alles ist Schwung, Zuversicht, Tätigkeitsdrang […] Finale: Tod – das Resultat der Zerstörung«. Die Symphonie blieb unvollendet, da der Komponist die Arbeit nach Fertigstellung des Kompositionsentwurfs und der Instrumentation des ersten Satzes aufgab.

Im Mai 1893 fasste Tschaikowski den Entschluss, das Symphonie-Fragment in ein Klavierkonzert umzuarbeiten. Die eigentliche Arbeit an der Konzertübertragung begann am 5. Juli, wobei der Kopfsatz (Allegro brillante) bereits acht Tage später und die beiden übrigen Sätze am 22. Juli 1893 vollständig skizziert waren. Kurz darauf berichtete der Komponist seinem ehemaligen Schüler Alexander Siloti, dass das neue Werk nicht »allzu sehr missraten« sei, wenngleich es für den Pianisten aufgrund mangelnder Virtuosität eine »undankbare Aufgabe« darstelle. Die fehlende Brillanz war dann auch der Hauptkritikpunkt des Premieren-Pianisten Sergej Tanejew, denn der Klavierpart ist deutlich stärker in die symphonische Textur integriert, als es in den meisten anderen Klavierkonzerten jener Jahre der Fall war (was angesichts der ungewöhnlichen Werkgenese kaum verwundert). Im einleitenden Allegro brillante, der einzige Konzertsatz der vom Komponisten instrumentiert vorliegt, versuchte Tschaikowski diesem Problem mittels einer ausladenden Kadenz entgegenzusteuern. Dessen ungeachtet beginnt das Stück in eher verhaltenem Tonfall mit einem lugubren Fagott-Thema, das anschließend vom Solisten aufgegriffen wird. Erst nach einem kontrastierenden Mittelteil wird das anfangs dunkel timbrierte Hauptthema in triumphalem Charakter wiederholt, bevor sich ein träumerisch entrückter Dur-Seitensatz anschließt. Mit einer lebhaften Danse à la russe, die in toccata-artiger Textur mit überraschenden harmonischen Wechseln erklingt, endet schließlich die Exposition. Was folgt, ist eine dramatische Durchführung, deren Konflikte allerdings immer wieder in das lyrische zweite Thema münden, bevor der Solist mittels der bereits erwähnten ausladenden Kadenz in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Die Reprise greift abschließend das erste Thema in seiner heroischen Umdeutung in neuer Harmonisierung auf, bevor der Satz mit einer schwungvollen Coda ausklingt.

Nach Tschaikowskis Tod sorgte Tanejew dafür, dass der vom Komponisten vollendete Kopfsatz separat als »Drittes Klavierkonzert« unter der Opuszahl 75 bei Jurgenson veröffentlicht wurde. Zudem übernahm er Ende 1894 die Instrumentation der nur im Entwurf überlieferten Sätze zwei und drei, die er als »Andante und Finale« op. 79 in Leipzig von Mitrofan Beljajew publizieren ließ. Erst 1954 wurde das Werk in die Tschaikowski-Gesamtausgabe übernommen, wobei es sowohl in seiner einsätzigen, als auch in der von Tschaikowski ursprünglich intendierten dreisätzigen Form nur äußerst selten in den Konzertprogrammen vertreten ist.

George Balanchine haben bereits während seiner frühen Karriere in Europa u. a. bei Serge Diaghilews legendären Ballets russes »akrobatisch-maschinelle Gebilde oder pyramidale Strukturen, Bewegungen, die irgendwie ›neu‹ sind«, fasziniert. Ende 1933 kam der berühmte Choreograf in die Vereinigten Staaten – auf Einladung von Lincoln Kirstein, dem in Boston geborenen Tanzkenner, dessen Traum es war, eine amerikanische Ballettschule zu gründen, die den europäischen gleichwertig war. Balanchine und Kirstein gründeten Anfang 1934 die »School of American Ballet« und ein Jahr später das »American Ballet«, das bis 1938 festes Ensemble an der Metropolitan Opera war. 1941 stellten beide die von Nelson Rockefeller gesponserte »American Ballet Caravan« zusammen, die mit neuen Kreationen wie Concerto Barocco und Ballet Imperial (später umbenannt in Tchaikovski Piano Concerto No. 2) durch Südamerika tourte. Nachdem Balanchine von 1944 bis 1946 als künstlerischer Leiter bei der Wiederbelebung des Ballet russe de Monte Carlo half, arbeiteten er und Kirstein erneut zusammen, um die »Ballet Society« zu gründen – eine Gesellschaft, die dem New Yorker Abonnement-Publikum in den nächsten zwei Jahren neue Balanchine-Werke wie The Four Temperaments (1946) sowie Strawinskys Renard (1947) und Orpheus (1948) vorstellte. Am 11. Oktober 1948 sah Morton Baum, Vorsitzender des Finanzausschusses vom New Yorker City Center, die »Ballet Society« und war so beeindruckt, dass er Verhandlungen einleitete, die zur Gründung des legendären »New York City Ballet« führten – mit Balanchine als künstlerischem Leiter, der die meisten der fast 200 Produktionen, die die Kompagnie seit ihrer Gründung aufgeführt hat, choreografierte. Zu den bemerkenswertesten Produktionen in den Anfangsjahren gehörten The Firebird (1949), Bourrée Fantasque (1949), La Valse (1951), The Nutcracker, Ivesiana und Western Symphony (1954) sowie Allegro Brillante (1956) zur Musik des vollendeten ersten Satzes aus Tschaikowskis Drittem Klavierkonzert, bei dem Balanchine kurzerhand Tschaikowskys Satzbezeichnung als Titel verwendete.