Essay
Abstrakte Sensibilität: 100 Jahre Triadisches Ballett. 1922-2022
by Anna Beke
„Zeichen unserer Zeit ist die Abstraktion […]. Zeichen unserer Zeit sind die neuen Möglichkeiten, gegeben durch Technik und Erfindung, die völlig neue Voraussetzungen schaffen und die Verwirklichung der kühnsten Phantasien erlauben oder hoffen lassen. Die Bühne, die Zeitbild sein sollte und besonders zeitbedingte Kunst ist, darf an diesen Zeichen nicht vorübergehen.“ – Oskar Schlemmer
Nicht vorübergegangen an den Zeichen seiner Zeit ist vor allem Oskar Schlemmer (1888–1943) selbst. Was war er nicht alles: Maler, Bildhauer, Pädagoge, Kostüm- und Bühnenbildner, Marionettenspieler, Tänzer, Choreograf, Theater-Erneurer, Philosoph, Visionär. Ein universaler Künstler. Ein Universalgenie? Einer der kreativsten Köpfe aus dem Umfeld des Bauhauses, als wohl bedeutendster Kunst- und Ideenschule des 20. Jahrhunderts. Ihm verdanken wir das Triadische Ballett, das als handlungsloses Bildertheater für Euphorie und Entsetzen sorgte und am 22. September 1922 am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart seine Uraufführung erlebte. Im Jahr 2022 schauen wir auf hundert Jahre bewegter Geschichte – Bewegungsgeschichte – dieses Bühnenstücks zurück, das längst als Schlüsselwerk eines Jahrhunderts gilt und auf einmalige Weise bildende und darstellende Kunst miteinander vereint. Die Tanz- und Kunstwelt feiert 100 Jahre Triadisches Ballett – das Bayerische Junior Ballett München feiert mit und wirft dabei zugleich Fragen auf: Was hat dieses Stück Tanzgeschichte heute noch mit uns zu tun? Berührt Schlemmers Zukunftsvision unsere eigene Gegenwart? Ist dieses hundert Jahre alte Werk ‚zeitlos‘ innerhalb der von Schlemmer als solcher bezeichneten „zeitbedingten Kunst“?
Stuttgart. Weimar. Hin und zurück – Geburtsstunde des Triadischen Balletts
Nach einer klassischen Kunstausbildung deutete nichts darauf hin, dass Oskar Schlemmer auch zum Wegbereiter neuartiger Theaterästhetik werden sollte. Seine Idole beschränkten sich zunächst auf eigenes Terrain: Futuristen und Kubisten hatten es ihm angetan, Cézanne und Seurat wurden zu Quellen der Inspiration. 1912 war es, als Schlemmer Meisterschüler Adolf Hölzels wurde, einem frühen Verfechter gegenstandsloser Malerei. Bald fühlte er sich angezogen von abstrakter Kunst wie auch fasziniert von künstlerischer Stilisierung des Phänomens Mensch. In jenem Jahr gingen Schlemmers Gedanken erstmals Richtung Tanz, nachdem er dem Tänzerpaar Albert Burger und Elsa Hötzel in Stuttgart begegnet war. Diese hatten eine Fortbildung bei Jaques-Dalcroze in Hellerau absolviert und waren gemeinsam mit anderen teils selbsterklärten Pionieren auf der Suche nach neuem Ausdruck. Schlemmer erkannte die vielfältigen Möglichkeiten, welche die Kunstform Tanz für ihn als Vertreter visueller Kunst und als ‚Augenmensch‘ in sich barg. Im Aufsatz Mensch und Kunstfigur (1925) schreibt er: „Architektur, Plastik, Malerei sind unbeweglich; sie sind in einen Moment gebannte Bewegung. […]. Die Bühne als Stätte zeitlichen Geschehens bietet hingegen die Bewegung von Form und Farbe.“
Aus Begeisterung wurde eine fixe Idee, und es entspann sich eine künstlerische Zusammenarbeit zwischen den Tänzern und Schlemmer-Brüdern Oskar und Carl, die gemeinsam in einem Bad Cannstatter Hinterhaus das Triadische Ballett erschufen. Achtzehn Kostüme, teils aus wattierten Stoffteilen, teils aus starren, kaschierten Formen, wurden es: Materialien, nicht wie gemacht, für den Tanz, daher machte man den Tanz für sie: die Goldkugel, Spirale, den Rundrock, Taucher oder Abstrakten. Schlemmers künstlerische Freiheit, Kostüme zum Ausgangspunkt jeder choreografischen Überlegung zu erheben und Körper in teils unbewegliche Kostümgebilde zu stecken, kann als revolutionäre Tat – vielleicht gar als provokativer Akt – gelten. Hatten Wegbereiter des modernen Tanzes seit Beginn des Jahrhunderts auf vielfältige Weise versucht, vornehmlich den weiblichen Körper von Korsett, Tutu und Spitzenschuh zu befreien, gestaltete Schlemmer so restriktive Kostüme wie nie zuvor. Tanzreformer Noverre hätte sich bei dem Anblick im Grabe umgedreht, all seine Innovationen seit 1760 vergessen geglaubt und abermals entrüstet aufgeschrien: „Sie begraben die Grazien!“ Doch Schlemmer begrub die Grazien nicht nur, sondern transformierte sie zu mehr oder weniger abstrakten Artefakten, in ihrer Individualität zurückgenommen zugunsten des Kunstwerks. Die Rechtfertigung hierzu gibt Schlemmer, wenn er als „eigentlichstes Wesen des Theaters“ bezeichnet: „Verstellung, Verkleidung, Verwandlung.“ Diese Verwandlung ging bis zur Abstraktion menschlicher Gestalt, aufgelöst im überzeitlichen Prototyp: „Der Mensch sucht immerdar Seinesgleichen oder sein Gleichnis oder das Unvergleichliche. Er sucht sein Ebenbild, den Übermenschen oder die Phantasiegestalt“. Vielleicht mag hierin das Zeitlose des Triadischen Balletts liegen, indem die Kostüme tatsächlich ‚aus der Zeit‘ gefallen scheinen – damals wie heute. Sie stellen eine Vision und Utopie menschlichen Wesens dar, verbinden die Tänzer weniger miteinander, als mit dem sie umgebenden Raum und lassen sie zu in Raum gegossener wandelnder Architektur werden. Der ‚Tänzermensch‘ ist hier das Substrat, der „goldene Schnitt“ von Schlemmers „absoluter Schaubühne“: „Wo das Wort verstummt, wo allein der Körper spricht […] – als Tänzer – ist er frei und der Gesetzgeber seiner selbst.“
Seine theoretische Vision idealen Theaters vollendete Schlemmer praktisch in seinem Meisterwerk des Triadischen Balletts – anders als Bauhaus-Kollege Kandinsky, dessen Theaterkonzept Der Gelbe Klang von 1912 zu dessen Lebzeiten keine Realisierung fand. Schlemmer, der seit 1921 am Bauhaus lehrte, erhielt die Erlaubnis, bis zur Fertigstellung des Stücks zwischen Stuttgart und Weimar zu pendeln. Als jedoch die rund ein Jahrzehnt lang vorbereitete Premiere kam, blieb der erhoffte Durchbruch aus. Für das anti-expressionistische Bildertheater konnte sich vereinzelt nur die Fachwelt bildender Kunst erwärmen. Eine herbe Enttäuschung, welche Unstimmigkeiten zwischen den beteiligten Künstlern mit sich brachte, die auch im Stück selbst Spuren hinterließen: Selten hat ein Bühnenwerk bei so wenigen Aufführungen so viele Veränderungen erfahren, musikalisch wie choreografisch. Feste Konstante blieben nur die 18 Kostüme Schlemmers – das Herzstück– sowie die titelgebende Grundstruktur.
Die Drei als Programm
Dreizahl – griech. triás – ist Programm: Drei Tänzer treten in drei Reihen mit Stimmungen „dem Sinn nach von Scherz zu Ernst gesteigert“ in zwölf Tänzen auf: Heiter-burlesk, feierlich, mystisch treffen auf die Farbgebung gelb, rosa, schwarz. Zentral sind der choreografische Einsatz der Grundformen Kreis, Dreieck und Quadrat sowie die Dreidimensionalität des Raumes. Dies war Konzept genug, um hiermit Schlemmers größtem Interesse nachzugehen, dem Menschen in der theatralen Ursituation eines ihn umgebenden Raumes und den unendlichen Möglichkeiten, welche diese Konstellation mit sich bringt: „In alle diese Gesetze unsichtbar verwoben ist der Tänzermensch. Er folgt sowohl dem Gesetz des Körpers als dem Gesetz des Raums; er folgt sowohl dem Gefühl seiner selbst wie dem Gefühl vom Raum.“ So stimmig die Grundidee, so wenige zeitgenössische Gemüter überzeugte Schlemmers Signaturstück letztlich. Auch beim Internationalen Choreografischen Wettbewerb im Pariser Théâtre des Champs-Elysées 1932 stellte sich der erhoffte durchschlagende Erfolg nicht ein: Wurde Kurt Jooss für sein Antikriegsballett Der Grüne Tisch mit dem 1. Preis beehrt, reichte es bei Schlemmer nur für den 6. Platz. Desillusioniert und finanziell verausgabt, möchte Schlemmer sein Lebenswerk nur mehr verkaufen. Neun der Originalkostüme werden nach New York versandt und sollen bei einer Bauhaus-Ausstellung des Museum of Modern Art 1938 präsentiert werden – diese wird nicht mehr realisiert. War die Bauhaus-Schule 1925 von Weimar nach Dessau vertrieben und 1933 als private Kunstakademie in Berlin zur Selbstauflösung gezwungen worden, geriet bald auch Schlemmer ins Visier der unaufhaltsam erstarkenden Nationalsozialisten. Als ‚entarteter‘ Künstler gebrandmarkt, wurde ihm jegliche Ausübung offizieller künstlerischer Tätigkeit untersagt. Der ab 1940 in einer Wuppertaler Lackfabrik als Farbenmischer tätige Künstler flüchtete in innere Emigration – er starb mit nur 54 Jahren.
Neufassung Gerhard Bohners 1977 – Ein Vermächtnis des Bayerischen Junior Balletts München 2014
Wird Oskar Schlemmer sein ihm angemessener Platz als einer Künstlergröße des 20. Jahrhunderts erst heute fraglos zugestanden, so trat auch dessen Signaturstück erst weit nach seinem Tod den Siegeszug an – unter der Neufassung des Choreografen Gerhard Bohner (1936–1992). Als eine der führenden deutschen Tanzpersönlichkeiten seiner Generation hatte er den Auftrag der Berliner Akademie der Künste erhalten, das Triadische Ballett zu rekonstruieren. Bohner, dem kein choreografisch überliefertes Material vorlag, sondern nur historische Szenenfotografien, Zeichnungen und Kostümentwürfe, startete wieder beim Kern jeder Aufführung – den Kostümen. Gemeinsam mit ‚Assistentin‘ Reinhild Hoffmann – längst selbst Ikone Deutschen Tanztheaters –, Komponist Hans-Joachim Hespos und Kostümbildnerin Ulrike Dietrich nahm Bohner das herausfordernde Erbe an und führte es zu internationalem Erfolg: In einer einmaligen Aufführungsserie wurde das Stück von 1977 bis 1989 an über 30 Orten in Europa, Asien und Amerika getanzt. Eindruck machte die Ästhetik des abstrakten Bildertheaters besonders auf Theatermacher wie Robert Wilson und Laurie Anderson bei einem Gastspiel in New York, die das Triadische Ballett endlich als das erkannten und feierten, was es war, ein einzigartiges lebendiges Stück Tanz- und Theatergeschichte, oder auf Tadeusz Kantor in Polen, für den vor allem Schlemmer selbst zum Katalysator für sein eigenes künstlerisches Schaffen wurde.
86 Aufführungen später wurden die Kostüme 1989 für ein Vierteljahrhundert in Kisten gepackt und erst 2014 für die durch TANZFONDS ERBE geförderte Koproduktion der Akademie der Künste Berlin und des Bayerischen Staatsballetts als langersehntes Ereignis hervorgeholt. Als Experten herangezogen wurden wieder Reinhild Hoffmann, Ulrike Dietrich, der technische Leiter Norbert Stück sowie der Leiter des Bayerischen Junior Balletts München Ivan Liška gemeinsam mit seiner Frau Colleen Scott. Letztere hatten das Stück damals in nahezu allen Vorstellungen getanzt und mit ihrer eigenen Bewegungssprache geprägt. Aussage Liškas: „Es ist eines meiner stärksten künstlerischen Erlebnisse als junger Tänzer, und die Erfahrung mit diesem speziellen Konzept von Tanz hat mich in meiner Karriere sehr bereichert. Dasselbe wünsche ich auch den jungen Tänzern.“ Es war daher eine Selbstverständlichkeit für sie, das Werk persönlich an die Tänzergeneration des 21. Jahrhunderts weiterzugeben: Seit bald einem Jahrzehnt liegt dieses wertvolle Erbe nun in den Händen Liškas und seiner Juniorkompanie. Auch die Junioren haben das Triadische Ballett mittlerweile in Italien, Polen, Hongkong und zahlreichen Städten hierzulande getanzt – eine Erfolgsgeschichte.
Perspektiven auf das Triadische Ballett im Jahr 2022 – Die neue Tänzergeneration des BJBM
Zurück zur Eingangsfrage: 100 Jahre Triadisches Ballett. Was hat dieses Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts heute noch mit uns zu tun, den Zuschauern und Künstlern, welche es am Leben halten? Inspiriert dieses Werk auch zeitgenössische Tanzkünstler, die viel mehr Zeit mit dem hundertjährigen Kunstwerk verbringen, als das Publikum während einer 70-minütigen Vorstellung? Um diesen Fragen nachzugehen, wurden drei Tänzer interviewt, die das Triadische Ballett in vielen Aufführungen des Bayerischen Junior Balletts München getanzt und ihre persönliche Verbindung dazu aufgebaut haben. Sie alle sind mittlerweile an renommierten Ballettkompanien tätig: Eloïse Sacilotto beim Staatsballett Berlin, Sinthia Liz beim Wiener Staatsballett und Florian Sollfrank beim Bayerischen Staatsballett.
Eloïse Sacilotto gesteht ohne Umschweife: „Liebe auf den ersten Blick“ sei das Triadische Ballett „wirklich nicht“ gewesen. Erst mit der Zeit habe sie es „lieben gelernt“, am meisten, als sie „das Junior Ballett verlassen habe.“ Da sei ihr klargeworden, wie viel es ihr gebracht habe: „Es hat mir Musikalität gegeben, ich konnte sehr schnell Lösungen für Probleme finden und improvisieren, wenn auf der Bühne etwas schiefging!“ Heute vermisse sie die Zeit, in der sie mit dem BJBM auf Tournee war. „Dabei ist das Triadische Ballett sehr schwierig zu tanzen. Die Musik ist eigentlich keine Musik, sondern eher Klänge und Geräusche, so dass es eine Herausforderung darstellt, den Tanz darauf abzustimmen.“
Kollegin Sinthia Liz betont, wie kostbar die Erinnerungen an das Triadische Ballett für sie seien: „Ich liebe dieses Ballett und es hat einen besonderen Platz in meinem Herzen. Es war das erste Stück, das ich beim BJBM getanzt habe und der Beginn meiner internationalen Karriere.“ Als unvergesslich beschreiben beide Tänzerinnen, die von 2016–2018 dem Ensemble angehörten, den Moment, in dem sie zum ersten Mal in den teils Originalkostümen von 1977 proben durften. Die Vorstellung selbst hielt stets einen Nervenkitzel für Liz bereit: „Jedes Mal, bevor der Vorhang hochging, wartete ich in der Bühnenmitte in der Dunkelheit mit zwei Damen der Kostümabteilung. Sie halfen mir, den 10 kg schweren Rock hochzuhalten, und ich war vor allem müde.“ Noch dazu sei das Triadische Ballett ein „sehr exponiertes Stück. Entweder man tanzt ein Solo oder man steht mit zwei anderen Tänzern auf der Bühne, ohne Bühnenbild, nur mit Licht“. Über den Wert des Stücks sind sich beide zweifellos einig: „Es ist ein so wichtiges Kunstwerk. Ich hoffe, dass es in 100 Jahren noch aufgeführt wird“, so Sacilotto.
Florian Sollfrank, der von ‚Stunde null‘ an bei der Neuproduktion 2014 dabei gewesen ist, betrachtet es andersherum: „Kaum zu glauben, dass schon hundert Jahre vergangen sind!“ Was auch ihn vor größte Herausforderungen stellte, waren die Kostüme: „Ich bin es gewohnt, dass sie sich nach den tänzerischen Anforderungen richten, wie Bewegungsfreiheit der Beine oder Arme. Hier scheint es umgekehrt, die Kostüme geben vor, welche Bewegungen möglich sind und lenken diese. Zunächst ist das irritierend, wenn man es jedoch akzeptiert, wird es hilfreich.“ Sollfranks Lieblingskostüm, der ‚Abstrakte‘, „ist mit hölzerner Maske, nur einer Öffnung für das Auge, einem übergroßen steifen Bein und schwerer hölzerner Brustplatte wirklich einschränkend. Viel Bewegung ist nicht möglich.“ Jedoch räumt er ein, „dass Limitierungen zwingen können, kreativ zu sein“. Liz ergänzt: „Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Kostüm, das dich trägt, und dir, der das Kostüm trägt. Aber es liegt eine gewisse Schönheit darin, wenn der Körper als Mechanismus gesehen wird, zusammen mit der Kreativität eines individuellen Geistes, Oskar Schlemmer.“ Sacilotto erklärt: „Man muss seine Technik an die Kostüme anpassen und einen Weg finden, um die Choreografie zu möglichen. Es war ein Kampf! Hebungen, Drehungen oder Balancen mit diesen Kostümen ist eine Sache, die jeder Tänzer versuchen sollte!“
Bei der Frage, wie die Tänzer den Wert einer Vorstellung für das heutige Publikum einschätzen, hält Sinthia Liz als Antwort parat: „Das Triadische Ballett ließ mich immer staunen: Es geht nicht mehr um Menschen oder Märchen, aber es hat diese abstrakte Sensibilität in der Choreografie, welche das Publikum noch immer fesselt.“ Bezüglich des ikonischsten Kostüms des ‚Abstrakten‘ bringt es die Tänzerin auf den Punkt: „Das Ballett endet mit einem unerwarteten, unheimlichen Solo. Das ist für mich eine Übersetzung und Überwindung der Jahre des 20. Jahrhunderts, als der Mensch die Technik entdeckte und nach Innovationen hungerte. War Schlemmers Entscheidung, das Ballett auf diese Weise abzuschließen, eine Kritik an seiner Zeit oder eine Feier? Am Ende des Abends wird das Publikum mit vielen Interpretationen und persönlichen Fragen zurückbleiben, das ist das Wunder abstrakter Kunst.“
Mit dem Aspekt der Aktualität und Relevanz setzte sich auch Performance-Künstlerin Laurie Anderson auseinander, nachdem sie einem Gastspiel im New Yorker Joyce Theater 1980 beigewohnt hatte:
Die Schlemmer-Tänze waren wirklich frisch und wunderschön, eine Reihe von Tänzen über Architektur… und das sah aus, als sei es erst vor ein paar Tagen choreographiert worden… Und es war auch ein Schock, diese Art von Kontinuität zu spüren und zu merken, dass Künstler Ideen haben, die dann von anderen Künstlern benutzt werden und dass es überhaupt keinen Fortschritt gibt, sondern eine ganz, ganz lange sich rückwärts und vorwärts in die Zeit erstreckende Konversation.
Diese lange Konversation aber ist es, die nicht bei Noverre anfängt und nicht bei Schlemmer, Bohner oder Anderson aufhört; die nicht in Begriffen von gestern, heute und morgen denkt, sondern der entscheidendsten Frage bezüglich Kunst generell nachgeht: Ob sie berührt und ob sie bewegt? Ohne die Frage nach einem ‚noch‘ oder ‚nicht mehr‘. Ob die Kunst also ‚zeitlos‘ ist in ihrem Vermögen zu berühren, womit sie zu ‚zeitloser Kunst‘ wird. Von daher schließe ich mich der Aussage und dem uneingeschränkten Wunsch der drei Tänzer an und hoffe, dass dieses Stück zeitloser Kunst- und Tanzgeschichte noch 100 weitere Jahre getanzt werde – mindestens, sehr gerne aber auch mehr!