Backstage

Interview

Am Puls der Zeit: Ein Gespräch mit Kinsun Chan

von Anna Beke

Vor rund einem Jahrzehnt choreografierte Kinsun Chan – ab der Spielzeit 2024/2025 Leiter des Semperoper Balletts in Dresden – neben »Storm«, »Unleashed« und »Peter und der Wolf« auch »JIT« (2015), als vierte Kreation für die Münchner Ballett-Akademie. Nachdem »JIT« gemeinsam mit den drei anderen Werken längst seinen internationalen Siegeszug angetreten hat, kommt die Choreografie mit der aktuellen Wiederaufnahme bei der Frühlingsmatinee zurück an den Ort des Entstehens, und die Ballett-Akademie freut sich auf die wertvolle erneute Zusammenarbeit mit ihrem fast ‚Hauschoreograf‘.

JUST IN TIME?!

Kinsun Chan, »JIT« lautet der Titel Ihres Stücks – worum geht es hier? 

Meine wichtigste Inspiration für »JIT« war das bedarfssynchrone Produktionssystem „Just-in-time. JIT“, das ab den Siebzigern von Toyota entwickelt wurde – als Antwort auf die globale Umwälzung der industriellen Revolution. Später haben Japaner versucht, ein System zu entwickeln, um Abfall wie auch den Lagerbestand zu reduzieren und generell Zeit zu sparen – alles wurde digitalisiert und optimiert. Neben dem System „JIT“ fand ich es inspirierend, ein Stück zu kreieren, das selbst gewissermaßen wie eine Fabrik funktioniert und die positiven wie negativen Aspekte reflektiert, die Kapitalismus und Globalisierung mit sich bringen. Meine Choreografie »JIT« spiegelt unsere heutige Gesellschaft wider. 

 

Hat das Thema Achtsamkeit mit der Ressource Umwelt eine besondere persönliche Bedeutung für Sie?

Im Rahmen meiner choreografischen Recherche war ich zunächst sehr beeindruckt, als ich mir komplett gesteuerte Roboter und digitalisierte Systeme genauer angeschaut habe, zugleich wirkten sie verstörend auf mich. Denn mein Verstand sagte mir: „Das ist also unsere Gesellschaft, ein hochoptimiertes und konsumierendes System.“ Es beeindruckte und enttäuschte mich zu gleichen Teilen, dass unser gesellschaftliches System so weit gegangen ist. Ich dachte mir: „Wie viel ist genug?“ Zusätzlich kamen mir humoristische Bilder in den Sinn: Diese hochpräzisierten industriellen Objekte erinnerten mich in ihren Bewegungen fast an Cartoons. Andere Inspirationsquellen wurden Jacques Tati-Filme, die ich sehr verehre, und in denen ebenfalls diese Massen-Fabrikszenen vorkommen – oder natürlich die legendären Arbeiten von Charles Chaplin. All diese Impulsgeber und verschiedenen Quellen der Inspiration stehen doch letztlich für den menschlichen Drang und Urinstinkt, der alle Epochen prägte, dass wir fortschreiten, unseren Alltag verbessern und unser Überleben sichern wollen. Zugleich hinterlassen wir starke Spuren in der Natur und verändern Dinge unabänderlich. Die Schlüsselfrage lautet doch, wo finden wir ein Gleichgewicht zwischen Technologie und Natur? Denn ohne Natur können wir nicht leben, das ist zweifellos – eine Welt ohne Natur wäre unser Untergang.

 

»JIT« ist rund zehn Jahre alt. Wie relevant ist das dort aufgegriffene Thema heute noch?

Derzeit erlebt »JIT« eine echte Wiederbelebung und wurde mittlerweile an verschiedenen Stellen einstudiert. Dabei ist es für mich wunderbar zu sehen, dass die Choreografie jetzt wieder an den Ort des Entstehens zurückkommt, nach München. Denn es wirft auch mich selbst in diese Zeit zurück und erinnert mich an meine eigene Reise, die ich von damals bis heute nahm. Dabei ist es tatsächlich erstaunlich, wie unglaublich relevant dieses Stück heute noch ist. Ist das jetzt positiv oder negativ? Einerseits ist es natürlich toll, dass »JIT« heute noch für die jüngere Tänzergeneration funktioniert, in ihren Körpern und Köpfen sitzt, und dass sie sich mit der Thematik identifizieren können. Andererseits denkt man sich, haben wir in der Zwischenzeit wirklich nichts gelernt (lacht)? Zehn Jahre sind ja keine so lange Zeit, aber man hofft dennoch, dass wir als Menschen unsere Geschichte irgendwann begreifen und nicht immer wiederholen werden. Zurück zu »JIT«: Ja, das Stück funktioniert auch heute noch in vielerlei Hinsicht, nicht nur bezüglich der Dramaturgie, sondern auch in der Bewegungssprache, es funktioniert als Werk selbst. Man sieht, dass es Tänzern große Freude bereitet, das Stück zu tanzen.

Hochleistung im Akkord

Sehen Sie eine Parallele zwischen den beiden „JIT“-Welten: der hochpräzisierten Manufaktur mit ihrer Fließbandfunktionalität und Tänzern als effizientem Bestandteil einer „Hochleistungs-Gesellschaft“?

Tanz ist zum Glück keine Fabrik, sondern immer noch sehr menschlich. Es ist eine der Formen menschlichen Zusammenkommens, wo wir immer noch darauf angewiesen sind, dass wir einander gegenüberstehen und uns gemeinsam in einem Raum befinden. Aber natürlich lässt sich sehr leicht die Reglementierung des Tanzes, die enorme Disziplin und Präzision seiner Fertigkeit auf die Unternehmenswelt mit ihren Manufakturen übertragen, wo diese Attribute ebenfalls benötigt werden. In diesem Sinne gibt es viele Parallelen zwischen der Idee hinter »JIT«: Bereits ab einem sehr jungen Alter haben Tänzer diese sorgfältige Disziplin und Herangehensweise an ihre Arbeit verinnerlicht. Und das wiederum ist etwas, was sehr gut auf mein Stück »JIT« übertragen werden kann, welches ebenfalls eine große Präzision und Synchronität an Bewegung voraussetzt und benötigt.

 

Grundsätzlich kann man »JIT« durchaus als ein gesellschaftskritisches Stück verstehen. Daher die alte Frage an Sie: Wie gesellschaftskritisch oder gar politisch kann und soll Tanz sein?

Ich denke, das ist genau das, was Kunst sein kann, aber nicht sein muss. Das ist doch genau das Schöne: Nicht nur der Tanz, sondern alle Künste gemeinsam sind Schwingungen unserer Gesellschaft. Ich denke, sie alle sollten frei zugänglich und immanenter Teil der Bildung und Entwicklung von Menschen sein. Denn Kunst ist ein Ort, der uns Freiheit gibt, uns selbst zu reflektieren und zu hinterfragen, uns als Mensch, aber auch uns als Gesellschaft. Es ist ein Ort, an dem wir Pressefreiheit haben, um genau hinzuschauen und uns als Menschen gesamtheitlich zu betrachten.

In der Arbeit an »JIT« kamen all diese Inspirationen und Bilder zusammen, all diese Fragen, die ich mir beim Kreationsprozess gestellt habe. In »JIT« existiert beispielsweise eine Sequenz, die direkt ein Geschehnis der damaligen Zeit widerspiegelt. Es ist die Szene der nach oben ‚fliegenden‘ Tische – hierzu hatte mich damals ein Streik des Staatsballetts Berlin inspiriert, von dem ich tags zuvor in den Medien erfahren hatte. Auch dies Exempel ist ein Beleg dafür, dass die Kunstform Tanz direkt reflektiert, was in der Welt um uns herum passiert. Vieles nimmt direkten Einfluss auf unsere eigene künstlerische Arbeit.

 

Hat sich »JIT« seit seiner Uraufführung wesentlich verändert oder ist das Stück noch ganz wie damals?

Es ist im Grunde gleichgeblieben. Aber ich sage immer, das Schöne am Choreografieren ist, dass es sich hier ähnlich wie bei einem Modedesigner verhält: Dieser kann ein Kleid für eine bestimmte Frau kreieren und es später auf eine andere Frau anpassen. Es gibt unterschiedliche Körper, unterschiedliche Persönlichkeiten. Bei einer Choreografie ist es genauso: Das Grundgerüst ist da, aber wir nehmen vielleicht ein paar Anpassungen vor, damit es für eine andere Besetzung besser funktioniert.

Was tatsächlich eine deutliche Veränderung erfahren hat, ist die technische Seite. Die originale »JIT«-Beleuchtung hatten wir damals in etwa 25 Minuten fertiggestellt, was extrem schnell ist. In den letzten Jahren haben wir uns Zeit genommen, die benötigten Cues weiter zu entwickeln und zu verfeinern. Wenn »JIT« anhand kleinerer Anpassungen heute noch raffinierter geworden ist, hat das viel mit meiner Assistentin Juliette Rahon zu tun – sie ist wirklich erstaunlich. Sie ist Französin, ‚läuft‘ aber wie ein Schweizer Uhrwerk. Juliette ist sehr zuvorkommend zu den Tänzern, dabei aber so präzise und kann dir genau sagen, wohin beispielsweise die Augen bei welchem Count schauen sollen. Sie ist wirklich unglaublich, wie sie ein Werk einstudiert und neu inszeniert. Bei den Menschen, mit denen ich intensiv zusammenarbeite, hat das Gelingen meiner Arbeit im Übrigen viel mit Vertrauen zu tun. Eigentlich ist das einfach für mich: Ich muss das Gefühl haben, dass ich ihnen die Schlüssel zu meinem Auto und zu meiner Wohnung geben kann und genau weiß, alles wird in Ordnung sein. Dasselbe Gefühl habe ich, wenn ich meinen Assistenten den Probensaal, die Tänzer, das Stück überlasse – ich weiß, alles wird gut.

Choreografieren für und mit jungen Tänzern

 Wie kann man sich den Entstehungsprozess eines Stücks wie »JIT« vorstellen – kamen alle Bewegungen von Ihnen selbst? Oder brachten die Studierenden eigene Ideen ein, die Verwendung fanden?

Jeder Choreograf und Künstler hat verschiedene Werkzeuge, die er verwendet. Ich arbeite mit vielen verschiedenen Tools, die stark mit meinem eigenen beruflichen Hintergrund zusammenhängen, der zunächst bei der bildenden Kunst und beim Design lag. Mit dem Tanzen habe ich nicht als kleines Kind begonnen, sondern diese Kunstform erst viel später für mich entdeckt. Wenn ich Bewegungen kreiere, ist meine Annäherung immer sehr visuell. »JIT« selbst ist wirklich im Dialog entstanden.

Überhaupt komme ich nie mit vorbereiteten Sachen in den Probenraum, nie. Ich habe es einmal zu Beginn meiner Karriere versucht, und es hat mir auf Anhieb nicht gefallen. Ich funktioniere nur mit Spontaneität, und es ist wichtig für mich, dass es in meiner Choreografie nicht notwendigerweise um Schritte geht, sondern darum, zu beobachten. Mein Hauptwerkzeug ist das Beobachten dessen, was vor mir ist, und mit dem ich eine Atmosphäre erschaffen will. Diese wiederum kann den Raum für viele verschiedene Dinge öffnen. Man beobachtet also und zieht daraus Schlüsse und Resultate.

Manchmal stelle ich eine bestimmte Aufgabe oder frage nach einer bestimmten Hebung, aber ich bin hier in meiner Anweisung absichtlich nicht so genau, da ich sehen will, wie jeder individuell damit umgeht und was dabei entsteht. Wenn ich eine Sequenz entwickle, finde ich es spannend, an drei verschiedenen Versionen parallel zu arbeiten, und deren unterschiedliche Entwicklung zu beobachten. Dabei bin ich dann wiederum sehr präzise. Ich erkenne eine bestimmte Form – ähnlich einer Skulptur –, die ich passgenau zurückschneide. Es ist wie bei einer Rohfassung, die man zu anfangs erhält und dann verfeinert. Präzision ist mir wirklich in allen Dingen extrem wichtig, und ich möchte eine besondere Dynamik und Energie erzeugen. Ich verstehe mich selbst immer als ‚visuelle Kreatur‘ und liebe es, in Museen zu gehen oder mir Architektur anzuschauen. Ich spüre die bestimmten Veränderungen und tauche darin ein. Auf diese Weise arbeite ich. Mich interessieren die Landschaften, die sich durch Bewegungsabläufe stetig verändern können, und es reizt mich als Choreograf Gestalter eines mit Emotionen geladenen Raums zu sein. Die Frage des Raums ist übrigens absolut zentral für mich. Wann immer ich eingeladen werde, an einem bestimmten Ort ein neues Stück zu kreieren, ist meine erste Aufforderung: „Zeigt mir den Raum“ – er diktiert und bestimmt meine Choreografie.

 

Mit »JIT« haben Sie neben »Storm«, »Unleashed« und »Peter und der Wolf« das vierte Stück allein für die Münchner Studierenden kreiert. Was reizt Sie am Choreografieren für junge Tänzer besonders?

Es sind sehr viele Punkte. Aber ganz generell: Ich werde für immer ein großer Befürworter der Weiterbildung junger Menschen sein, sei es im Tanz oder in anderen Bereichen. Als ich selbst mit dem Tanzen aufgehört und mit dem Choreografieren begonnen habe, habe ich meine ersten Stücke für Tänzer in der Ausbildung kreiert – ein riesiges Geschenk, für das ich immer dankbar sein werde! Diese Tätigkeit habe ich fortgesetzt, egal wohin meine Karriere mich führte. Ich denke, es ist enorm wichtig, dass junge Tänzer die Chance erhalten, eine große Vielfalt an verschiedenen Stilen und Werken kennenzulernen. Und ich weiß, wenn man ihnen diese Erfahrung ermöglicht und mit ihnen teilt, kann das ihr Leben verändern.

An jungen Tänzern schätze ich selbst wiederum ihre unglaubliche Energie, Spontaneität und ihren unbedingten Willen zu lernen, ihr Bestes zu geben. Und dieser enorme Drive jugendlicher Menschen ist unglaublich inspirierend – in beide Richtungen. Natürlich möchte auch ich sie motivieren, aber sie motivieren mich ebenfalls, sehr stark.

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