Backstage

Interview

Dem Tanz-Erbe verbunden – zwei Choreografen erzählen…

von Deike Wilhelm

Bei den diesjährigen Herbst-Matineen präsentiert das Bayerische Junior Ballett München zwei neue Werke. Beide Kreationen wurden von Choreografen geschaffen, die der Heinz-Bosl-Stiftung und dem Bayerischen Junior Ballett eng verbunden sind. Der Kammertänzer Norbert Graf ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Stiftung, ehemaliger „Boseleaner“ und hat bereits fünf Werke für die Junioren kreiert. Simon Adamson-De Luca, 19 Jahre alt, ist derzeit Tänzer des Bayerischen Junior Ballett München und erschafft mit seinen Kollegen eine neue Kreation. Damit bleibt die Heinz-Bosl-Stiftung ihrer Repertoire-Politik treu: arrivierte Choreografen und junge Künstler werden engagiert, um den Junioren eine möglichst breite Erfahrung zu ermöglichen.

Ein Gespräch mit beiden Choreografen …

Deike Wilhelm: Was ist das Thema Eurer Stücke?

Norbert Graf: «Stück im alten Stil» ist eine Hommage und Verbeugung an die Tanzpersönlichkeiten, an die Choreografen, die mich in meinen physischen Tanz- und körperlichen Mitteln am meisten geprägt haben. Es ist meine bisher persönlichste Kreation, weil es komplett aus dem schöpft, was aus mir selbst herauskommt.

Deike Wilhelm: Welche Choreografen, welche Meister haben Dich denn als Tänzer geformt?

Norbert Graf: Tatsächlich geht es mir weniger um einzelne Choreografen als vielmehr um ihre jeweilige Bewegungsqualität, ihre Bewegungsdefinitionen. Wenn ich jedoch drei Choreografen nennen müsste, die mich als Tänzer geformt haben, dann würde ich Ohad Naharin, Mats Ek und William Forsythe erwähnen. In unserer Ballettausbildung damals hatten wir keinen modernen Unterricht und als ich das erste Mal mit Ohad Naharin in Berührung kam, war das wie von einem anderen Planeten. Wir hatten damals nicht die technologischen Mittel, uns Stücke im Internet oder auf Video einfach anzuschauen. Sein Stil ist bei mir eingeschlagen wie ein Meteorit. Und das war sehr faszinierend. Das war für mich eine ganz, ganz prägende Erfahrung.

Deike Wilhelm: Und um was geht es in Deinem Stück, Simon?

Simon Adamson-De Luca: «Return to Innocence» setzt sich mit dem Thema Verlust auseinander. Es ist etwas, das jeder in irgendeiner Form im Laufe seines Lebens erfahren wird.

Deike Wilhelm: Und wie bist Du auf dieses Thema gekommen?

Simon Adamson-De Luca: Als feststand, dass ich ein Stück für die Herbst-Matinee kreieren darf, hat mich das erstmal sehr unter Druck gesetzt, weil ab dem Moment für mich die Uhr zu ticken begann. Ich wollte sofort eine Inspiration für das Stück finden. Das führte erstmal fast zu einer Art kreativen Blockade. Ich hatte zu sehr versucht, etwas zu erzwingen, anstatt es auf mich zukommen zu lassen. Gleichzeitig hatte ich von Anfang an eine Art Atmosphäre im Kopf, die im Laufe der Zeit immer konkreter wurde. Ich habe dann passende Musik gesucht und von da aus Bewegungen erschaffen. Das Thema meiner Kreation ist abgeleitet von einer persönlichen Lebenserfahrung, die ich in diesem Jahr gemacht habe: Der Tod meines Vaters. Ich schöpfe aus den Emotionen, die ich Anfang des Jahres erlebt habe. Doch obwohl die Choreografie einer persönlichen Erfahrung entspringt, erkläre ich das in der Choreografie nicht explizit. Ich denke, diese Art von Emotionen und die sehr reale menschliche Erfahrung von Verlust, die sich in der Choreografie widerspiegeln, kann die Zuschauer erreichen. Ich hoffe, dass das Publikum sich damit identifizieren kann. Die kraftvollsten Stücke, die ich im Theater gesehen habe, sind diejenigen, die eine Art universelle Wahrheit in sich tragen. Vielleicht weiß man als Zuschauer nicht genau, worum es geht. Vielleicht ist es auch nicht mal eine Erzählung, aber man sieht etwas auf der Bühne und kann es in sich selbst spüren. Ich weiß vielleicht, wovon die Tänzer erzählen und vielleicht interpretiert es auch jeder Zuschauer anders, aber dennoch sind alle in diesem Moment in dem Erleben miteinander verbunden. Ich finde es einfach toll, wenn man ins Theater geht, ohne wirklich zu wissen, was man auf der Bühne sehen wird, und man dann plötzlich mit dem Gefühl hinausgeht – wow, ich fühle mich von den Tänzern gesehen und von demjenigen, der das kreiert hat. Ich habe das Gefühl als Zuschauer, dass ich auf der Bühne in gewisser Weise repräsentiert wurde. Das kann man als Zuschauer vielleicht nicht immer genau benennen, aber man ist berührt davon und ahnt die Wahrheit dahinter mehr als dass man sie weiß.

Deike Wilhelm: Norbert, und welche Bedeutung hat Dein Stück?

Norbert Graf: Ich habe das Gefühl, dass der Tanz von vor der Jahrtausendwende, von dem ich ja sehr profitiert habe und der eigentlich unsere ganze Tanzlandschaft nach wie vor prägt, derzeit langsam an Bedeutung verliert. Es ist etwas pauschal gesagt, aber ich würde sagen, es geht bei den Tänzern heute viel altes Wissen verloren und manche Tänzer wissen nicht mehr, welche bedeutenden Tanzpersönlichkeiten vor uns waren. Deshalb ist dieses Stück für mich so wichtig, als Hommage, aber auch als Erinnerung daran, dass wir ein Erbe tragen, das uns bis hierhin geführt hat und das wir nicht vergessen sollten.

Deike Wilhelm: Norbert, die Musik für Dein Stück wurde extra komponiert. Warum hast Du diesen Weg gewählt und kannst Du den Prozess beschreiben?

Norbert Graf: Ich wollte für dieses Stück unbedingt eine eigene Komposition, weil es mir wichtig war, wirklich ein in sich geschlossenes Kunstwerk zu erschaffen. Ich empfinde es manchmal als schwierig, wenn man mit Songs oder Musikpassagen arbeitet. Das bricht manchmal ab, dann kommt das nächste. Das passt sicherlich bei manchen Stücken, wenn hier ein Solo kommt, dann ein Duo. Aber es widerspricht meiner Konzeption für dieses Stück – ich wollte zum Beispiel immer alle Tänzer auf der Bühne. Es soll bewegungstechnisch, aber auch choreografisch eine in sich geschlossene Sache sein, damit man das als Ganzes aufnehmen kann. Und eine Auftragskomposition hat natürlich auch immense Vorteile. Wir arbeiten miteinander wie Hase und Igel – manchmal ist die Musik vorher fertig, dann wieder die Choreografie. Das bedingt sich jeweils. Und die Zusammenarbeit mit Daniel Ployer ist großartig. Ich kann ihm genau sagen, was ich jeweils brauche. Oft sitzen wir zusammen am Computer und überlegen, hören uns Ideen an und schauen uns dann das Video von den Proben an. Daniel bedient sich mit wunderbarer Leichtigkeit an all den Programmen mit vielen Sounds und den unterschiedlichsten Klängen. Das macht wirklich einen Riesenspaß!

Deike Wilhelm: Simon, Du bist jetzt 19 und hast dennoch schon erste choreografische Erfahrungen gesammelt.

Simon Adamson-De Luca: Ja, ich habe bereits zuhause in Toronto meine ersten choreografischen Erfahrungen gesammelt. Als ich 14 war, habe ich an einem choreografischen Sommer-Workshop teilgenommen und im letzten Ausbildungsjahr als Tänzer auch ein Stück für meine Mitschüler geschaffen. Dieses Werk hier beim BJBM ist aber definitiv für mich ein viel größerer Schritt: Es ist das erste Mal, dass ich für eine professionelle Company und für eine so große Bühne wie das Nationaltheater kreiere.

Deike Wilhelm: Was hat Dich so jung schon dazu bewegt, Dich für Choreografie zu interessieren?

Simon Adamson-De Luca: Das ist schwer zu beschreiben – es ist eine Art unbewusste Erfahrung. Viele Dinge in unserer Kunstform Tanz sind schwer mit Worten zu beschreiben – es sind eher Gefühle oder Erfahrungen. Schon in meiner Kindheit habe ich manchmal Dinge im Kopf erschaffen, wenn ich mit meinen Eltern im Auto unterwegs war und Musik im Radio lief: Kleine Tänze – etwas, was sich für mich natürlich anfühlte. Ich mochte es, Musik in Bewegung umzusetzen. Ich glaube, es hat wirklich eher unbewusst angefangen. Ich liebe es einfach, etwas zu erschaffen. Und als ich später realisierte, dass man das wirklich machen kann, dass das Choreografie ist, habe ich erkannt, dass es für mich sehr interessant ist, diese Dinge, die ursprünglich nur Gedanken in meinem Kopf sind, physisch vor mir von Menschen dargestellt zu sehen. Es steckt auch eine Art Mysterium darin, denn ich weiß nicht ganz genau, was mich daran so interessiert oder was mich so angezogen hat. Ich glaube, das ist es auch, was ich daran liebe, denn es gibt etwas Unbekanntes dabei, das mich immer wieder herausfordert, weiter erforschen und entwickeln zu wollen.

Deike Wilhelm: Und wie kam es dazu, dass Du für die Junior Company kreierst?

Simon Adamson-De Luca: Ich habe Ivan sehr früh darauf angesprochen, dass ich mich für Choreografie interessiere. Noch vor meinem Beginn bei den Junioren habe ich ihm eine Email geschrieben und von meinem Interesse für Choreografie berichtet – in der Hoffnung, dass ich vielleicht mal etwas Kleines im Rahmen einer informellen Präsentation kreieren darf. Und als ich in München war, haben wir darüber gesprochen. Ivan hat sich meine vorherigen Stücke angeschaut und war beeindruckt davon. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass er mir ein Stück für die Matinee auf der Bühne des Nationaltheaters anbietet. Und ehrlich gesagt hatte ich zuerst wirklich Angst. Aber ich weiß, dass das eine große Chance ist und hätte nie gedacht, dass sich diese Tür so schnell und zu diesem Zeitpunkt für mich öffnet. Nun versuche ich es einfach zu genießen und es anzunehmen und bin sehr dankbar dafür.

Deike Wilhelm: Könnt Ihr den kreativen Prozess beschreiben? Wie entstand die Idee, wie habt Ihr diese mit den Tänzern umgesetzt?

Norbert Graf: Ich habe dieses Mal ganz anders gearbeitet als sonst. Bisher hatte ich immer ein klares Grundgerüst und für jede Probe einen klaren Plan A, B und C, den ich während der Proben verfolgt habe, weil ich den Stillstand im Studio immer als ganz fürchterlich empfinde – wenn man in eine Sackgasse gerät, einem nichts mehr einfällt und alle nur warten. Dieses Mal hatte ich jedoch Lust auf einen neuen Zugang. Ich habe selbst im Vorfeld im Studio improvisiert, das dann gefilmt und die Tänzer übernehmen lassen. Das hat sich dann mit ihnen in den Proben natürlich verändert und manche Teile haben wir auch komplett gemeinsam entwickelt. Ich hatte den Eindruck, dass bei der derzeitigen Junior Company sehr viel kreatives Potential schlummert und habe mich deshalb das erste Mal getraut, diesen Weg zu gehen. Das hat sich auch bestätigt. Die Arbeit mit den Junioren macht unglaublich viel Spaß. Ich bin wirklich sehr angetan von dem Ensemble – von den künstlerischen Persönlichkeiten und von dem hohen Niveau. Die Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern ist geflossen, es gab nie eine Minute Stillstand. Wir haben uns gegenseitig inspiriert, weil die Tänzer so viel Bereitschaft hatten zu geben und so haben wir uns gegenseitig immer angesteckt. Letztlich haben wir das Stück in sehr kurzer Zeit erschaffen. Das war wirklich toll!

Simon Adamson-De Luca: Ich fühle mich von meinen Kollegen sehr unterstützt. Wir kennen uns alle wirklich sehr gut, ich weiß, wie sie tanzen und sich bewegen und ich finde es wirklich sehr schön, etwas mit ihnen zu kreieren. Ich habe erst überlegt, wie ich mich als Choreograf abgrenzen kann, da ich mit allen befreundet bin. Nun aber fühlt es sich sehr natürlich an, wenn ich vorne im Raum stehe: Ich kann sehr effektiv mit den Leuten arbeiten und kommunizieren. Sie sind ganz bei mir und das macht die Arbeit wirklich einfach. Ich fühle mich nicht von ihnen beurteilt und das ist großartig, denn manchmal, besonders am Anfang, gab es Momente, in denen ich ein bisschen an mir selbst zweifelte. Deshalb bin ich dankbar, dass ich am Anfang ganz allein mit ihnen arbeiten durfte. Es fühlt sich sehr natürlich an, mit meinen Kollegen zu arbeiten – sie sind auch alle sehr professionell. Wenn wir zum Beispiel in den Probenraum kommen, sind sie da, um zu arbeiten und um zu helfen. Ich habe das Gefühl, dass sie mir helfen, das volle Potential der Kreation auszuschöpfen. Sie wollen das gemeinsam mit mir.

Deike Wilhelm: Wie genau arbeitest Du mit den Tänzern?

Simon Adamson-De Luca: Tatsächlich fasziniert es mich sehr, wie andere Choreografen arbeiten. Auch, weil ich selbst noch dabei bin herauszufinden, wie ich in diesem Bereich arbeiten will, weil ich noch ein sehr junger Choreograf bin. Ich komme immer mit etwas Vorbereitetem ins Studio, weil es mir hilft, den Ball ins Rollen zu bringen. Wenn ich mit nichts komme, lasse ich mich von der Angst vor dem Unbekannten überwältigen. Deshalb habe ich einige Abschnitte, die ich im Kopf hatte, selbst erst im Studio ausprobiert und gefilmt, um zu sehen, ob es mir gefällt. Darauf baue ich dann auf. Und manchmal fange ich während der Probe mit etwas ganz Neuem an. Ich hatte ein paar vage Ideen und habe diese nach dem Zufallsprinzip ausprobiert und war dann überrascht, als ich alles zusammen sah, weil es mir tatsächlich sehr gut gefiel. Das ist wirklich magisch.

Deike Wilhelm: Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Norbert Graf: Ich bin wirklich dankbar, dass ich mit den Junioren arbeiten darf. Sie machen in diesen zwei Jahren im BJBM immer so unglaubliche Fortschritte. Manchmal sehe ich die Tänzer zwei Monate nicht, weil sie nicht bei jeder Produktion des Staatsballetts beteiligt sind und dann bin ich oft über ihre Fortschritte sehr erstaunt. Als hätte ich einen neuen Tänzer vor mir. Und ich bin wirklich gerne im Vorstand der Heinz-Bosl-Stiftung. Ohne das Wirken von Konstanze Vernon wäre das alles nicht möglich gewesen. Das gilt für meinen persönlichen Weg genauso wie für die Stiftung, die Ballett-Akademie und das Staatsballett. Ich selbst habe von diesen drei Institutionen in einem Maße profitiert, dass ich nie in der Lage sein werde, das alles zurückzugeben. Deshalb bin ich dankbar, zumindest einen Teil davon zurückgeben zu dürfen, ein Teil dieses Vermächtnisses sein zu dürfen.

Simon Adamson-De Luca: Ich bin so aufgeregt über diesen Prozess und schätze mich einfach jeden Tag sehr glücklich, dass ich die Chance bekomme, so zu arbeiten und meine Arbeit auf der Bühne des Nationaltheaters zu zeigen. Ich weiß nicht, wohin mich das führen wird und ob ich nach meiner Karriere als Tänzer als Choreograf arbeiten werde, aber ich weiß, dass Choreografieren etwas ist, das mich sehr glücklich macht. Und ich möchte es einfach erkunden und sehen, wohin es mich führt. Und ich lerne auch, wie ich im Probenraum sein möchte – in beiden Rollen, als Tänzer für den Choreografen und als Choreograf mit den Tänzern. Ich bin wirklich sehr dankbar darüber, dass ich beide Perspektiven erleben darf.

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