Interview
Wenn der Anfang fließt: Die außergewöhnliche TANZLAND-Kooperation
von Deike Wilhelm
Drei Spielzeiten lang verband das Bayerische Junior Ballett München (BJBM) eine enge Kooperation mit der Stadt Villingen-Schwenningen. Die Company war zwischen Frühjahr 2018 und Herbst 2020 mit insgesamt vier Produktionen zu Gast. Darüber hinaus fanden zahlreiche Workshops und gemeinsame Projekte statt. Diese enge Kooperation war eines von insgesamt dreizehn TANZLAND Projekten in Deutschland, die zum Ziel hatten, zeitgenössischen Tanz auch einem Publikum fernab der Metropolen in Deutschland zugänglich zu machen. Der TANZLAND-Fonds für Gastspielkooperationen ist eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes in der Projektträgerschaft des Dachverbands Tanz Deutschland e.V. und fördert Kooperationen zwischen einem Theater ohne eigenes Ensemble (INTHEGA-Häuser) und einem festen Tanz-Ensemble.
Ein Gespräch mit:
Andreas Dobmeier (AD), Kulturamtsleiter der Stadt Villingen-Schwenningen
Ivan Liška (IL), Künstlerischer Leiter des BJBM
Deike Wilhelm (DW), Autorin & Inspizientin BJBM
DW: Herr Dobmeier, wie kamen Sie auf das BJBM? Und warum wollten Sie überhaupt diese Kooperation? Immerhin schränkt es Sie ja in der Programmplanung insofern ein, als dass sie über drei Jahre fix an das BJBM gebunden waren.
AD: Das BJBM hatte mich schon seit mehreren Jahren immer wieder mit seiner jugendlichen Freude am Tanz, mit seiner Frische und Energie und der gleichzeitig hohen Professionalität begeistert. Ich hatte die Company zum ersten Mal in einer Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung im Nationaltheater München erlebt und sie deshalb bereits zuvor zu einem Gastspiel nach Villingen-Schwenningen eingeladen. Besonders attraktiv fand ich die große Bandbreite des Repertoires, das ja von klassischen Balletten über neoklassische Werke bis hin zu den zeitgenössischen Arbeiten international renommierter Choreografen reicht.
DW: Erzählen Sie vom Anfang. Wie war das? Und wie hat sich die Kooperation dann konkret realisiert?
AD: Die Ausschreibung für die TANZLAND-Gastspielkooperation erfolgte erst im Frühjahr 2017, da stand der Spielplan für die kommende Saison bereits kurz vor Drucklegung. Dennoch wollte ich eine solche einmalige Chance, den zeitgenössischen Tanz noch stärker in unserem Programmangebot zu etablieren, nicht vorüberziehen lassen. Ich nahm telefonisch Kontakt zu Ivan Liška auf, und wir waren uns schnell einig, dass eine solche Kooperation für beide Seiten sehr fruchtbar sein würde und wir neue Akzente in der Gastpielpraxis und der Vermittlungsarbeit setzen könnten. Die Texte für den Antrag und den Finanzierungsplan haben wir gemeinsam erarbeitet. Am Wochenende darauf bin ich zu einem Gastspiel des BJBM nach Hof gefahren, um die Unterschrift von Herrn Liška einzuholen und den gemeinsamen Antrag noch rechtzeitig vor Fristablauf nach Berlin schicken zu können. In einem inspirierenden Gespräch haben wir die erste Planung unserer Zusammenarbeit weitergesponnen und viele weitere Ideen entwickelt. Ich bin mit einem Gefühl der Zuversicht zurückgefahren, denn ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, wenn ein Vorhaben von Anfang an fließt, dann wird es gut.
DW: Herr Liška, war das ein guter Anfang?
IL: Ja, unbedingt. Herr Dobmeier kam bis nach Hof, wo wir gerade mit der Company auf Gastspiel waren. Nach der Vorstellung haben wir alles besprochen, damit er den Antrag am nächsten Tag gerade noch fristgerecht einreichen konnte. Das ging wirklich ziemlich schnell. Kurz vor Mitternacht waren wir uns endgültig einig, dass wir das machen wollen. Und die Kooperation begann dann auch sehr außergewöhnlich: Wir gaben die letzte Vorstellung der Spielzeit im Theater am Ring in Villingen-Schwenningen, bevor die Sitze im Zuschauerraum während der Sommerpause komplett erneuert wurden. Und nach der Sommerpause durften wir die Eröffnungsvorstellung im Theater mit neuer Bestuhlung geben. Das war ein herausragender Moment für das Theater und für uns eine Ehre, ihn gestalten zu dürfen.
DW: Herr Dobmeier, was waren Ihre Ziele für diese Kooperation?
AD: Das ehrgeizige Ziel war es, in unserer Stadt etwas in Bewegung zu bringen – nach außen hin sichtbar durch ein vielfältiges Programm, vor allem aber in den Menschen selbst, ob sie nun Zuschauer einer Tanzveranstaltung oder aktiv Mitwirkende in einem Vermittlungsprojekt sind. Schon lange war es mir ein besonderes Anliegen, zeitgenössischen Tanz zu einem festen Bestandteil des kulturellen Lebens zu machen. Mit einzelnen Gastspielen renommierter Companies, besonders aber mit zwei sehr großen Tanztheaterprojekten mit Schülern, nach dem Vorbild von ,Rhythm Is It!’ war es uns immer wieder gelungen, Begeisterung für den Tanz zu wecken. Ich war also fest davon überzeugt, dass das Interesse des Publikums für Tanz in Villingen-Schwenningen durchaus vorhanden war.
DW: Was ist für Sie das Besondere am Tanz? Warum haben Sie diese Kooperation angestrebt, die ja sicherlich auch dem Tanz somit in Ihrem Spielplan einen wesentlich größeren Platz als bisher eingeräumt hat? Welchen Wert hat Tanz für unsere Gesellschaft?
AD: Bewegung ist Leben, und der Tanz ist höchster Ausdruck von Lebendigkeit. Gerade beim Tanzen werden die Eleganz und die Ausdruckskraft des menschlichen Körpers sichtbar, und seelische Empfindungen werden offenbar. Die äußere und innere Bewegung des Menschen – die Motion und die Emotion – verbinden sich. So äußert sich beispielsweise Lebensfreude unmittelbar in der Körpersprache. In der Tanzkunst wird das zu einer intensiven Erfahrung. Die Energie des Tanzes überträgt sich auf die Zuschauer, lässt sie Geschichten erleben und eröffnet den Zugang zu neuen Welten. Deshalb war es mir auch so wichtig, diese Kunstform fest im Spielplan zu verankern.
DW: Wurden Ihre Erwartungen erfüllt? Und was waren Ihre persönlichen Highlights der Kooperation?
AD: Meine Erwartungen an das TANZLAND-Projekt wurden mehr als erfüllt. Schon das erste Gastspiel des BJBM, das unter dem Titel ‚Tanz für Herz und Atem‘ klassische und sehr unterhaltsame zeitgenössischen Choreografien bot, begeisterte das Publikum und faszinierte auch viele junge Zuschauer. Mit einem abwechslungsreichen Programm unter dem Titel ‚Münchner Freiheit‘ eröffnete das BJBM die Spielzeit 2018/19. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer liefen zu Höchstform auf und ernteten dann auch verdient stehenden Ovationen.
Die Aufführung des »Triadischen Balletts« von Oskar Schlemmer haben wir anlässlich des Jubiläums ‚100 Jahre Bauhaus‘ angesetzt. Schüler haben wir zu einer öffentlichen Generalprobe eingeladen. Diese Performance wirkte in Folge außerordentlich inspirierend auf mehrere Schulkunst- und Schultanzprojekte, bei denen der spartenübergreifende Ansatz Schlemmers, Bildhauerei, Malerei und Tanz zu verbinden, wunderbar aufgegriffen wurde.
Das absolute Highlight setzte Ivan Liška mit dem ‚Grand Finale‘, mit dem sich das BJBM als ‚Dancers in Residence‘ aus Villingen-Schwenningen verabschiedete. Der Abend bot mitreißende zeitgenössische Choreografien, darunter zwei Welt-Vorpremieren: »Eyeblink« von Maria Barrios und »When she knew« von Caroline Finn, die beide an diesem Abend auch von weit her angereist waren. Große Begeisterung löste die Einladung zum Mitmachen aus, mit der Caroline Finn und Ivan Liška die Zuschauer im Theater während der Vorstellung in Bewegung brachten. (Dieser außergewöhnliche Moment ist hier zu finden.)
DW: Herr Liška, haben Sie das Gefühl, dass die Company dort in diesen Jahren ein zweites Zuhause hatte?
IL: Ja, definitiv. Die Tänzer haben – auch wenn die Besetzung der Company gewechselt hat – in diesen Jahren ein Verhältnis zur Stadt entwickelt. Und zum Publikum. So war das nicht jedes Mal ein fremdes Publikum. Sie haben sich wirklich in Villingen-Schwenningen zuhause gefühlt. Aus unserem subjektiven Standpunkt ist das sehr bereichernd gewesen. Außerdem hat sich das Theater über die drei Spielzeiten sehr große Mühe gegeben. Das Team dort ist nicht groß, aber sehr hingebungsvoll. Sie beobachteten, was wir alles brauchten, und das, was an technischer Ausstattung nicht vorhanden war, war beim nächsten Gastspiel plötzlich da: Ein besserer Tanzboden, bessere Vorhänge und auch Ballettstangen wurden in dieser Zeit angeschafft. Das Theater hatte sich wirklich zur Aufgabe gemacht, uns als Gastcompany offen und qualifiziert unterzubringen.
DW: Herr Dobmeier, neben den Gastspielproduktionen gab es zahlreiche weitere Projekte und Workshops. Dabei ist mir aufgefallen, dass es viele Workshops gab, in denen es auf eine bestimmte Weise um das Überwinden von Grenzen ging und um das Integrieren von unterschiedlichen Menschen. Sei es ein Workshop nur für Jungen, Workshops für Grundschüler und Oberstufe, für Lehrer, für Vereine und ein Workshop mit behinderten Menschen. Der Tanz, der sich wie ein Netz durch die Stadt zieht und alles miteinander verbindet. Was waren bei der Planung dieser Workshops Ihre Wünsche, Ziele und Schwerpunkte?
AD: Der Aspekt der Vermittlung war mir bei unserer Kooperation von Beginn an sehr wichtig. Und so war ich sehr froh, dass ich Frau Prof. Padmini Baun von der Staatlichen Musikhochschule Trossingen gewinnen konnte, gemeinsam mit Herrn Liška ein ‚Tanz- und bewegungspädagogisches Programm‘ für Villingen-Schwenningen zu entwickeln. Unter der künstlerischen Gesamtleitung von Frau Baun hatten wir in den vergangenen Jahren bereits die erwähnten großen Schultanzprojekte realisiert und so gelang es relativ leicht, Schulen aller Arten, Tanzschulen, die Musikakademie, das Sinfonieorchester und weitere Kulturakteure für eine Mitwirkung zu begeistern. Es entstanden zahlreiche Workshops und Projekte, die alle aufzuzählen den Rahmen hier sprengen würde. Das große Glück war natürlich, mit absoluten Profis arbeiten zu dürfen, denen es spielend gelang, die jungen Menschen mitzureißen.
DW: Welche Workshops gab es und was war jeweils besonders?
AD: Ich will nur einige wenige Beispiel nennen: Ausgehend von Aszure Bartons Stück »Nonett« betrachtete der Choreograf Terence Kohler mit Jugendlichen den Entstehungsprozess einer Choreografie und ließ sie bei ‚Music for Heart and Breath‘ von Richard Reed Parry mit geschlossenen Augen eigene Tanzimprovisationen erspüren. Ein junges Mädchen meinte nach dieser Erfahrung: „Ich hätte nie gedacht, dass ich genug Ideen habe, um so lange alleine zu tanzen.“
Anna Beke, Tanzpädagogin an der Bayerischen Staatsoper München, widmete sich in einem Workshop der Choreografie »Blues in A-Minor« von Norbert Graf, das inspiriert war von den Kunstwerken Paul Klees, insbesondere seinen Fingerpuppen. Die Teilnehmer ganz unterschiedlichen Alters konnten erleben und probieren, was geschieht, wenn sich zwei ‚Fingerpuppen‘ begegnen, einen Körper und Beine bekommen und doch hinter einer Maske verborgen bleiben.
In einer Lehrerfortbildung zeigte Ivan Liška anhand einer Sequenz aus seiner Choreografie »Bilder einer Ausstellung«, was Tanz mit dem bildnerischen Thema zu tun hat und orientierte sich dabei an dem Maler Piet Mondrian, der seine Bilder so beschreibt: „Nicht statisch sollen sie erscheinen, sondern in Bewegung.“
Daniel Robertson-Styles, ein Tänzer des Ensembles, zeigte Jungen einer Realschule Ausschnitte der Choreografie »Im Wald« von Xin Peng Wang. Beim Einstudieren der Bewegungen staunten die jungen Männer über die Kraft, das Tempo und die Schwierigkeit des Tanzes. Die Begegnung mit dem jungen Tänzer hat auch die Jungs beeindruckt, die bisher Tanzen als ‚Mädchenkram‘ abgetan hatten.
DW: Herr Liška, wie haben Sie es damals zusammen mit Daniel geschafft, die Jungs zum Tanzen zu bewegen?
IL: Wir haben das einfach vorgemacht. Daniel war ja kaum älter als die Jungen. Man verführt sie also alleine dadurch, dass kein Altersunterschied besteht. Und Daniel ist natürlich auch cool! Die Männer schämen sich mehr voreinander als Frauen, und ihre Courage wird meist vom Grummeln der anderen begleitet. Bei den Jungen geht es noch mehr darum, dass sie an sich selbst glauben als bei den Mädchen. Einige von ihnen waren natürlich vom Breakdance geprägt, so dass sie sich sehr gut bewegen konnten, aber eben nur in einem Stil, der cool sein muss. Doch Tanz kann mehr. Er kann eben auch Verletzbarkeit zeigen. Etwas, das wohl jeder in seinem Inneren trägt.
DW: Herr Liška, an welchen Workshop denken Sie besonders gerne zurück?
IL: Es gab einen Workshop mit einer inklusiven Klasse. Das waren Jugendliche mit einer geistigen Behinderung. Das war für mich besonders berührend. Manche der Kinder haben erst gezögert, doch als sie dann mitgemacht haben, kam eine riesige Welle der Begeisterung von ihnen. Da war fast übermäßig viel Lust und Freude, doch dann haben sie wieder abrupt aufgehört, weil sie sich nicht mehr dazugehörig fühlten. Der Schluss war dann wieder sehr berührend, weil die Jungs merkten, dass sie komplett als Partner ernst genommen wurden. Sie haben etwas gemacht, was sie noch nie zuvor gemacht hatten. Sie haben sich dann mit einem Händeklatscher „high five“ von mir verabschiedet. Wir waren also Kumpel.
DW: Herr Dobmeier, ich erinnere mich noch gut daran, wie Sie ganz zu Beginn unserer Kooperation den Tänzerinnen und Tänzern folgende Worte mit auf den Weg gaben: „Eure Aufgabe ist es, Villingen-Schwenningen in Bewegung zu bringen.” Eine große Aufgabe für junge Menschen. Und deshalb die Frage: Hat sich Villingen-Schwenningen bewegt?
AD: Eindeutig ja! In besonderer Weise wurde dies sichtbar bei der ‚Langen Schwenninger Kulturnacht‘, einem großen Fest in der Schwenninger Innenstadt, das jährlich 15.000 bis 20.000 Besucher anzieht. Auf der Hauptbühne durften viele Zuschauer nicht nur das BJBM mit zwei ganz unterschiedlichen Tanzstücken genießen, sondern wurden von Ivan Liška auch noch zur choreografierten Bewegung ermuntert. In beiderlei Hinsicht eine ganz neue Erfahrung für viele.
IL: Ja, das war auch für uns eine tolle Erfahrung. Wir haben Stücke aus unserem Repertoire gezeigt und dann habe ich mit einem Tänzer, Nikita Voronin, eine Art Animation gemacht. Dazu haben wir die Schritte aus dem Richard Siegal-Stück »3 Preludes« vorgetanzt. Und dann passierte endlich das, was Herr Dobmeier sich gewünscht hatte: Villingen-Schwenningen tanzte! Die ersten zehn Reihen mit ungefähr 300 Leuten wiegten sich nicht nur, sondern sie haben sich richtig bewegt. Alle Altersgruppen tanzten die Schritte, die wir ihnen gezeigt haben. So kamen wir dem gewünschten Ziel etwas näher. Nicht nur im Theater, sondern auch auf dem Stadtplatz.
DW: Inwiefern macht es einen Unterschied, wenn Zuschauer auch tanzen?
IL: Die Zuschauer erleben eine Identifikation, indem sie sich auch selbst in der Bewegung entdecken. Ich denke auch, das ist der Grund, warum das Projekt TANZLAND aufgelegt wurde. Nicht nur, um Tanz in die Städte zu bringen, sondern auch, um das Bewusstsein der Bewohner für den Tanz an sich zu sensibilisieren. So dass sie dann selbst weitertanzen – weit über diese Kooperation hinaus.
DW: Herr Dobmeier, bewegt sich Villingen-Schwenningen weiterhin? Welche nachhaltige Wirkung, welchen Gewinn hatte unsere Kooperation Ihrer Meinung nach?
AD: Da ist zum einen die Heranführung an den Tanz und die Begeisterung, die wir für diese Kunstform wecken konnten. Zum anderen haben gerade junge Menschen in den Workshops neue Erfahrungen gesammelt und einen neuen ‚Spielraum‘ für sich entdeckt. Die Auseinandersetzung mit Tanz und Musik hat den eigenen Körper ganz anders erfahrbar gemacht und zumindest im Ansatz ein verändertes ‚Selbstbewusstsein‘ geschaffen. In der spielerischen Erfahrung, einfach einmal ‚ganz Mensch‘ zu sein, liegt der Gewinn für mich. Ich wünschte mir, Tanz und Darstellendes Spiel würde ein fester Bestandteil des Lehrplans an Schulen werden. Stellen Sie sich vor, wie die von allen im Spiel erlernten Eigenschaften – Wahrnehmen, Zuhören, Respektieren, Entwickeln der eigenen schöpferischen Kraft – auf die Gesellschaft zurückwirken würden.
DW: Während drei Spielzeiten war das Bayerische Junior Ballett München bei Ihnen zu Gast in Villingen-Schwenningen. Wie Ivan Liška ja bereits erwähnte, wurde die Stadt für die Company zu einem zweiten Zuhause. Wie haben Ihre Zuschauer auf das BJBM reagiert und darauf, immer wieder dasselbe Ensemble zu sehen?
AD: Das Publikum hat die Company sehr bald ins Herz geschlossen. Auch wenn die Hälfte der insgesamt 16 jungen Tänzerinnen und Tänzer jährlich das Ensemble verlässt und wieder neue Gesichter hinzukommen, so hat man doch bald die ‚Dancers in Residence‘ auch als ein Ensemble wahrgenommen, das zu unserer Stadt gehört. Das gelang auch durch ‚Überraschungseffekte‘. Beispielsweise traten zwei Tänzer – Nikita Voronin und Armando Arens – beim Konzert unseres Sinfonieorchesters auf mit einer Choreografie ihres Kollegen Florimon Poisson, die sie zur Musik von »Les Éléments« des französischen Barockkomponisten Jean Féry-Rebel tanzten.
IL: Ja, das war ein sehr schönes Erlebnis. Wir durften einen jungen Choreografen aus dem Ensemble empfehlen: Florimon Poisson. Das war eine sehr große Chance für ihn. Es ist ein schönes Stück geworden, das noch weiterlebt. Gerade studiert er es mit den neuen Mitgliedern des Ensembles ein, damit wir es bald wieder aufführen können.
DW: Herr Dobmeier, haben Sie ein neues Tanzpublikum während dieser Kooperation erreichen können?
AD: Eindeutig ja. In der Tanzreihe ‚VSeMotion‘ präsentieren wir pro Spielzeit insgesamt fünf Gastspiele hochkarätiger Ensembles aus aller Welt. Diese ist inzwischen sehr gut gebucht und zählt viele Abonnenten. Auch ein neues, jüngeres Publikum hat den Tanz für sich entdeckt und ist begeistert von den vielfältigen Ausdrucksformen des zeitgenössischen Tanzes.
DW: Noch eine grundsätzliche Frage an Sie, Herr Dobmeier: Warum denken Sie als Leiter des Kulturamts Villingen-Schwenningen, dass unsere Gesellschaft ein Kulturangebot braucht? Was ist für Sie der Wert von Kultur?
AD: Kultur, Kunst, kulturelle Bildung zusammengenommen ist ein unverzichtbarer Bestandteil für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Durch sinnliche und intellektuelle Impulse wird die Welt in ihrer Vielfalt erst erlebbar. Diese Erfahrungen regen wiederum Innovation, Kreativität und Experimentierfreude an. So werden Kräfte mobilisiert, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse bewusst gestalten. Hier ist eine aktive Kulturpolitik der öffentlichen Hand notwendig, die, frei von wirtschaftlichen und sonstigen Interessen, auf allen Ebenen ein breit angelegtes Kultur- und Bildungsangebot ermöglicht und so innovativ und kreativ wirkt. Gerade die rasanten Entwicklungen in den letzten Wochen, ausgelöst durch die Corona-Krise, fordern uns ja geradezu auf, endlich umzudenken. In der jetzt neu entstehenden Welt müssen wir die Freiheit im Geistesleben bewahren und ausbauen.
DW: Herr Liška, warum glauben Sie, ist gerade Tanz wichtig für die Gesellschaft?
IL: Weil es die Menschen dazu inspiriert, sich Fragen zu stellen… Rätsel sind wichtig für jeden Menschen. Ein Kunstwerk muss nicht direkt sein, es soll etwas vermitteln, worüber Menschen nachdenken. Es soll nicht Philosophie sein, aber auf eine Art ist es das schon. Das ist etwas, was sie sonst in ihrem Alltag – auch nicht in der Kirche – erfahren. Ich glaube, im Tanz wird jeder Körper ernstgenommen, so dass die Menschen sich angesprochen fühlen, auch wenn sie nicht direkt wissen, wie sie es entschlüsseln sollen. Außerdem hat jeder Mensch einen Körper, den er auch mal bewegt. Man merkt selbst bei älterem Publikum, dass sie noch diese Ader in sich spüren. Tanz – das ist das älteste Mittel, sich künstlerisch auszudrücken. Und das ist, glaube ich, instinktiv. Der Glaube an Tanz ist nicht anachronistisch. Wenn man auf sein Inneres hört, dann findet man es. Es – den Tanz. Und dazu sind wir da.
DW: Wie würden Sie diese drei Jahre Gastspiel-Kooperation resümieren?
IL: Ich bin Herrn Dobmeier dankbar, dass er das durchgehalten hat, auch wenn wir eben nicht nur ‚Verkaufshits‘ angeboten haben, wie manche Veranstalter sich das wünschen. Mir war wichtig, dass wir während dieser drei Spielzeiten sehr unterschiedliche Werke aufführen würden, so dass das Publikum auch erzogen werden kann. Ich glaube, das Projekt war ein Erfolg.
DW: Noch eine letzte Frage an Sie, Herr Dobmeier: Wird das BJBM auch nach der Kooperation wieder zu Ihnen kommen?
AD: Ja, ich habe das BJBM – auf mehrfachen Wunsch des Publikums, wie es so schön heißt – auch in der nächsten Spielzeit wieder zu einem Gastspiel eingeladen. Ich hoffe sehr, dass wir die beispiellosen Zeiten von Corona bald hinter uns haben und wir unser Theater spätestens im September wieder öffnen können.