Backstage

Essay

Kinder im Fokus: Die Jungstudierenden der Münchner Ballett-Akademie

von Anna Beke

Vorhang auf! – heißt es bei den Herbst-Matineen endlich auch wieder für die Jungstudierenden der Münchner Ballett-Akademie, die sich heute, nach zweijähriger coronabedingter Bühnenabstinenz, stolz an der Seite der Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Balletts München im Nationaltheater präsentieren. Eine Vorstellung der Junioren sozusagen, der großen und ganz kleinen.

Ab einem Alter von acht Jahren – rund ein Jahrzehnt vor der allgemeinen Hochschulreife – gilt man als ‚reif‘ fürs Jungstudium an der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München; dieses führt die Kinder und Jugendlichen über Vorstufe, Grund- und Mittelstufe zum Vollstudium und – als Endziel – hoffentlich zur Bühnenreife. Die ‚Eintrittskarte‘ ist das Bestehen des einmal jährlich stattfindenden Eignungstests, bei dem das künstlerische und physische Talent zum Tänzerberuf auch unter Berücksichtigung des tanzmedizinischen Aspekts möglichst realistisch eingeschätzt werden soll. Denn, so konstatiert Prof. Jan Broeckx, seit 2010 Institutsleiter der Ballett-Akademie: „Unsere Verantwortung ist es in erster Linie, ein gesundes Training anzubieten. Eines, das auf das Alter, die individuellen körperlichen Voraussetzungen und speziellen kindlichen Bedürfnisse abgestimmt ist.“

 Zwei Jungstudierende, die die erste Hürde der Aufnahmeprüfung bewältigt haben, und dies trotz ihres zarten Alters vor einigen Jahren, sind Aurelia und Matthäus. Während das zwölfjährige Mädchen bereits vor zehn Jahren ihre Liebe zum Tanz entdeckt hat („schon als Baby war ich im Ballettsaal meiner Mutter, die selbst Ballettlehrerin ist”), wurde die ungebremste Leidenschaft des Dreizehnjährigen fürs Ballett im Zuschauerraum des Nationaltheaters entfacht – während einer Bosl-Matinee: „Ich bin mit meiner Mama und Schwester zum Zuschauen gekommen und fand es einfach sehr cool und wollte unbedingt mitmachen. So bin ich zur Ballett-Akademie gekommen und bis jetzt dabeigeblieben.“ Dass Matthäus ein gebürtiges ‚Münchner Kindl‘ ist, war logistisch ein echter Pluspunkt, denn Aurelias Familie zog für die Ballettausbildung der Tochter hingegen extra von Nürnberg nach München – ein nicht kleiner Schritt für die Familie für einen großen Schritt für das tanzbegeisterte Mädchen. Auf die Frage, was die beiden an Ballett am meisten mögen, hält Aurelia prompt als Antwort parat: „Dass ich meine Gefühle ausdrücken und in verschiedene Rollen schlüpfen kann. Und auch einfach verschiedene Tanzschritte zu lernen, macht mir so viel Spaß. Ich lieb’s einfach!“ Matthäus ergänzt euphorisch: „Am besten gefällt mir, wenn man sich so richtig angestrengt hat, das Gefühl danach, dass man alles gegeben hat. Und das Gefühl ist sehr schön, wenn man weiß, dass man alles dafür tut und gibt.“ 

Genau dieses Brennen für den Tanz ist es, was auch Jan Broeckx bei den ihm anvertrauten Ballettschülerinnen und -schülern für besonders wichtig hält: „Passion. Ausdruck. Spaß. Dasein. Dieser Wille: ‚Ich möchte es unbedingt, ich muss da durch.‘ Und das ist das Schöne, diese Passion. ‚Ich möchte tanzen. Ich tue alles dafür.‘“ Dieses ‚alles‘ ist tatsächlich nicht wenig: Sechs Mal in der Woche kommen Aurelia und Matthäus in die Ballett-Akademie, wo sie mit anderen Jungen und Mädchen – Gleichgesinnten ihres Alters – täglich im Ballettsaal trainieren und schwitzen. Um ihren Traum zu verwirklichen, später als professionelle Bühnentänzer auf den Brettern zu stehen, die ‚die Welt bedeuten‘, nehmen die beiden einiges in Kauf und das gern: „Früher war es eine Umstellung, vom Hobbyballett zur Berufsausbildung, aber mittlerweile habe ich mich komplett daran gewöhnt, meine Hausaufgaben schneller zu machen oder im Auto noch zu lernen. Und dann funktioniert das eigentlich ganz gut, dass ich den ganzen Tag keine Zeit habe für den ganzen Rest“, erklärt Aurelia ihren selbstverständlichen Alltagsstress als professionelle Ballettschülerin. Matthäus ergänzt: „Ich habe jetzt nicht das Gefühl, dass ich gar nicht mehr zum Atmen komme. Natürlich ist es manchmal so, dass man denkt, o, jetzt hab‘ ich schon wieder Training. Aber wenn man da ist, dann ist es eigentlich immer super.“ Dies liegt seiner Meinung nach auch stark an Klassenleiter Krzysztof Zawadzki, der das „wirklich ziemlich gut macht, mit der Motivation, dass wir uns so viel wie möglich anstrengen wollen“.

In puncto Gewichtsverteilung der beiden vermeintlichen Gegenspieler Disziplin und Freude beim Unterricht sind sich Broeckx und die Jungstudierenden übrigens einig: „fifty-fifty“ sei diese für den Institutsleiter: „Es muss Freude geben, aber auch Disziplin. Das ist wirklich halb und halb.“ Das sehen Aurelia und Matthäus genauso, wie zunächst das Mädchen betont, das von Prof. Caroline Llorca unterrichtet wird: „Natürlich muss man streng sein als Ballettlehrerin, finde ich, aber im positiven Sinn. Dass man auch nett ist und freundlich zu den Kindern. Viele Korrekturen gibt, aber auch viel lobt. Dass es also sehr ausgeglichen ist.“ Matthäus wiederum findet, dass man „auch mal hart sein muss, denn ohne Kritik kommt man nicht weiter“, daher gilt es von Seiten der jungen Auszubildenden viel guten Willen zu zeigen: „Wichtig ist, dass man immer mit Freude dabei ist. Also man kann natürlich auch mal einen schlechten Tag haben, an dem man einfach nicht so viel Lust hat, aber grundsätzlich sollte man mit Engagement dabei sein“ Dem stimmt Aurelia uneingeschränkt zu: „Also, wenn dir Ballett keinen Spaß macht, dann kannst du es nicht machen, sozusagen.“

Wie unabdingbar Begeisterung und Hingabe für ihre Ballettschülerinnen und Ballettschüler und auch für sie selbst sind, betont Maximiliane Hierdeis, die schon ihre eigene Ballettausbildung in München absolviert hat und ebenso wie ihre weiteren Kolleginnen und Kollegen aus dem Jungstudium, Chantal Fink, Isabelle Severs und David Russo, an der Ballett-Akademie unterrichtet: „Was ich am meisten liebe, ist das Feuer in den Kindern zu entfachen, das in mir selbst brennt.“ Weiterhin ist sie der festen Überzeugung, dass es unglaublich viel sei, was die Dozierenden „ihren Kindern“ mitgeben könnten, da sie diese so oft sehen: „Es ist nicht immer leicht und nicht immer gleich, aber wenn jemand fürs Tanzen Feuer entwickelt, der wird es nie bereuen.“ Jede einzelne Trainingsstunde sei für die jungen Menschen „Gold wert.“ Denn, so erklärt die passionierte Pädagogin mit Herzblut: „Kein Jahr mit Unterricht ist je verloren. Durchs Ballett kommen die Kinder mit sich selbst ins Gespräch, weil sie sich konzentrieren und auf sich selbst fokussieren müssen. Da bist du ganz bei dir. Auch das ist nicht einfach. Viele haben Schwierigkeiten damit, mit sich selbst in den Dialog zu gehen, das musst du im Ballett aber unbedingt. Das alles ist ein Prozess. Und dieser Prozess ist essentiell, ein großer Schatz.“ Ein Grundsatz, der seit dem Jahr 2020 ebenfalls fest und verbindlich im pädagogischen Konzept der Ballett-Akademie verankert ist, lautet für Hierdeis: „Das Kind als Ganzes sehen. Man darf seine Schülerinnen und Schüler nicht nur aufs Ballett reduzieren. Ganz wichtig ist im Blick zu behalten, dass dieses Kind auch noch andere Fähigkeiten hat. Es ist nicht nur wichtig, auf die korrekte fünfte Position zu achten, sondern auf das Kind im Ganzen.“

Als ‚Schule fürs Leben‘ betrachtet auch Jan Broeckx den Unterricht, da es so vieles sei, was die rund siebzig Jungstudierenden hier von Kindesbeinen an mitbekommen: „Gleich, ob die Kinder nach der Ausbildung den Tänzerberuf dann endgültig ergreifen wollen oder können: Disziplin, Gefühle, Emotionen nehmen sie mit fürs ganze spätere Leben, eine gute Haltung – sowohl körperlich als auch mental im übertragenen Sinn gemeint.“

Dass die späteren Berufsmöglichkeiten für Ballettkinder ebenso vielfältig sind wie für andere Kinder auch – mindestens –, liegt spätestens beim Gespräch mit Aurelia und Matthäus auf der Hand: Natürlich lieben sie Ballett, in erster Linie, aber beide belegen zusätzlich auch noch Theaterklassen in der Schule, und Matthäus hegt nebenbei großes Interesse an Schauspiel und Physik – in einem Atemzug genannt. Daneben hält der fraglos äußerst strapazierte Stundenplan des Jungen wöchentlichen Unterricht in Tennis und Klavierspiel bereit, und ans Üben muss er auch noch denken, „wenn ich noch irgendwo Zeit und Ruhe finde.“ Aurelia verbringt einfach „sehr gern Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden. Aber so viel Zeit ist nun auch wieder nicht“ – das glaubt man der Zwölfjährigen aufs Wort.

Entbehrungen sind bereits bei den Jungstudierenden fraglos da. Freizeit existiert kaum. Dennoch überwiegt sowohl bei den Ballettkindern als auch bei den Dozierenden stets die Begeisterung für das, was sie tun: Tanzen lernen und Tanzen lehren. Verbündete sind sie miteinander im Ballettsaal und auf der Theaterbühne, beim miteinander Proben für Vorstellungen mit dem Bayerischen Staatsballett oder für Vorstellungen wie diesen, den traditionsreichen und heißgeliebten Bosl-Matineen. Wie elementar wichtig die Beteiligung bei all diesen Aufführungen ist, heben Broeckx und Hierdeis mit deutlichen Worten hervor. So steht für die Ballettlehrerin fraglos fest: „Den Aufführungen kommt die größte Bedeutung zu – die wichtigste. Zu spüren, was bedeutet Theater? Theater spürst du nur im Theater! Es ist eine andere Luft. Das muss man erleben. Diejenigen, die dafür bestimmt sind, essen das, leben das, atmen das und sagen, da will ich hin. Selbst wenn sie später keine Tänzer werden sollten, sie werden für immer eine Beziehung zum Theater haben.“ Für Broeckx sind die gemeinsam erlebten Bühnenmomente wichtige persönliche Höhepunkte: „Diese so speziellen Augenblicke sind sehr schön. Die Freude der Kinder in den Augen zu sehen.“ Dies bestätigt Aurelia, wenn sie beschreibt: „Vor einer Vorstellung bin ich immer sehr aufgeregt. Aber wenn der Vorhang aufgeht, bin ich einfach so froh, dass es endlich losgeht, und es ist so schön das Gefühl, da ist die Aufregung schon fast verflogen.“ Matthäus ergänzt schließlich: „Es ist schon so, dass am Anfang einer Vorstellung das Herz schlägt“ – aber das ist ja auch ganz gut so. 

Bis man auf den Bühnenbrettern des Nationaltheaters oder anderswo steht, ist es ein weiter und mühsamer Weg, den man täglich aufs Neue gehen und für den man sich jeden Tag aufs Neue entscheiden muss. Ein Weg, der Schwierigkeiten und Stolperfallen bereithält – in der Ausbildung und im Beruf. Aber, so sagt Jan Broeckx ganz nonchalant und mit Augenzwinkern: „Herausforderungen finde ich immer sehr schön. Daraus entwickelt sich was. Ein Gespräch. Ein Agieren.“

Auf dieses Agieren miteinander kommt es in der Ballettausbildung an: Zwischen den Lehrenden und Studierenden im Trainingsalltag einerseits, zwischen den Tanzenden und Zuschauenden während einer Vorstellung wie der Bosl-Matinee andererseits. Vielen Herausforderungen hat man sich gestellt und viele Hürden gemeinsam bewältigt, bis es zu solch einer Aufführung vor zweitausend Zuschauern kommen kann. Doch eines steht für Jan Broeckx als Institutsleiter gemeinsam mit seinem gesamten Lehrerkollegium fest, wenn am Ende der beiden Vorstellungen wieder einmal siebzig Augenpaare der tanzenden Kinder leuchten und deren Funken auf der Bühne auch nur auf ein einziges Kind im Zuschauerraum des Nationaltheaters übergesprungen ist – so wie vor sechs Jahren bei Matthäus –, dann hat sich die gemeinsame Arbeit und Mühe auch dieses Mal tausendfach gelohnt. Auf all die bislang entdeckten und unentdeckten Talente von heute – bereits auf der Bühne oder noch im Zuschauerraum –, auf die Tänzerinnen und Tänzer von morgen, darf man jedenfalls gespannt sein. Denn sie sind ja nichts weniger als die Zukunft des Tanzes!