Essay
Wenn junge Künstler nach dem Licht suchen
von Deike Wilhelm
Wie ein Funke springt die jugendliche Frische und Freude im Nationaltheater von der Bühne in den Zuschauerraum. Berührend sind die jungen Tänzerinnen und Tänzer, die ihr Talent mit uns teilen.
Im September (2018) haben neun neue Ensemble-Mitglieder beim Bayerischen Junior Ballett München begonnen. Sie unterscheiden sich von den noch jüngeren Kollegen der Bosl-Matinee insofern, als dass sie nun ihre professionelle Karriere angetreten haben. Von ihnen wird deshalb in Zukunft auch mehr erwartet. Jugendlichkeit, Freude und Talent, ja selbst Technik allein reichen nicht mehr. Sie müssen die Zuschauer an ihrer Persönlichkeit teilhaben lassen und sich als Künstler ausdrücken.
Die jungen Ensemble-Mitglieder beschreiten nun einen Weg, den sie bereits seit Jahren – meist seit der Kindheit – mit großer Leidenschaft, Vision und Beharrlichkeit verfolgen. Voller Hoffnung auf die Zukunft. Es ist ein Weg, der reich an Erfahrungen und Emotionen ist. Ein Weg, der sie ganz und gar einfordert. Ein Weg, der die Bereitschaft zu ständigem Lernen und Wandel verlangt. Das Leben, für das sich diese jungen Menschen auf der Bühne des Nationaltheaters entschieden haben, wird von ihnen sehr früh eine große menschliche Reife abverlangen. Denn es ist ein Beruf auf Zeit.
Das unterscheidet Ballett-Tänzer von vielen anderen Künstlern. Die Zeit ihres künstlerischen Wirkens auf der Bühne ist knapp bemessen. Neben dem intensiven körperlichen Einsatz verlangt Ballett von den jungen Menschen geistige und emotionale Präsenz, Einfühlungsvermögen und Auffassungsgabe, um sich auf die unterschiedlichsten Handlungen und Emotionen einzulassen, und – essentiell – Authentizität. Früher als andere Künstler müssen die Tänzerinnen und Tänzer also zu einer großen Menschen- und Lebensweisheit gelangen, wenn sie nicht nur durch eine hervorragende Technik brillieren, sondern die Zuschauer auch emotional erreichen wollen. Und das, obwohl es ihnen in jungen Jahren noch an wertvoller Lebenserfahrung mangelt.
In den zwei Jahren im Ensemble haben die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Ballett München die Möglichkeit, den Zugang zum eigenen künstlerischen Ausdruck zu entdecken. Sie suchen nach Wegen, ihre Persönlichkeit durch die Form des Balletts leuchten zu lassen. Es ist eine Suche nach dem Licht, das aus dem Inneren kommt und nach Außen strahlt. Immer wieder wird dieses innere Licht während der Proben erwähnt, um den jungen Tänzern klar zu machen, dass es nicht um ein bloßes Präsentieren des Körpers und seiner Bewegungen geht, sondern um den Ausdruck der eigenen vielschichtigen Persönlichkeit. Um Authentizität.
Die ästhetischen Bewegungen des Balletts sind dabei „lediglich“ die äußere Form und Sprache, um das reiche Innenleben auszudrücken. Doch im Inneren leben eben auch so manche Ängste und Zweifel. Und hier wohnt dem Ballett ein Widerspruch inne: einerseits geht es um äußere Perfektion, andererseits geht es im Kern um das Annehmen und Ausdrücken von „Imperfektion“, das heißt das Zulassen von Fehlern, Ängsten, Zweifeln, die in ihrer Vielfalt erst das Leben vollkommen machen. Es geht im künstlerischen Ausdruck letztlich eben nicht um Perfektion, sondern um ein bedingungsloses Bejahen der eigenen Persönlichkeit in all ihren Facetten. Erst, wenn auch die Persönlichkeit in aller Verletzlichkeit nach Außen strahlt, berühren große Künstler ihre Zuschauer. Dann ist tiefe Authentizität zu spüren, nach der wir Menschen im Grunde alle streben. Ballett ist das Ausfüllen einer äußeren Form durch das, was im Innerem ruht. Dies fordert den Tänzerinnen und Tänzern Ehrlichkeit, Wertfreiheit und Demut ab. Sie verlangt darüber hinaus ein großes Verantwortungsbewusstsein für den eigenen Körper und das eigene Seelenleben.
Wie jedoch erlernen die jungen Künstler die Fähigkeit, ihr Inneres nach außen leuchten zu lassen? Es bedarf – von Seiten der Tänzerinnen und Tänzer – großer Offenheit und Neugier auf das Leben, Vertrauen und Selbstvertrauen, Durchlässigkeit und Mut. Und ein geschütztes Umfeld, in dem sie experimentieren und Fehler machen dürfen, ein Repertoire, das sie fördert und fordert und – nicht zuletzt – Menschen, die sie auf diesem Weg einfühlsam unterstützen und begleiten. Manch einer der jungen Tänzerinnen und Tänzer ist zwar technisch brillant, aber noch zu schüchtern, um sich wirklich zu zeigen. Ein anderer Kollege hingegen stellt seine Bewegungen und den schönen Körper so überdeutlich aus, dass auch hier noch nichts aus dem Inneren leuchtet: Die Technik und Darstellung scheinen wie eine Schutzmauer die inneren Zweifel zu verbergen. Genau zwischen diesen Polen suchen die jungen Menschen ihren Weg. Es ist ein schmaler Grat, der ausgelotet werden muss. Deshalb brauchen die jungen Menschen einen Raum, in dem sie sich ausprobieren dürfen. Bühnenerfahrung, um zu wachsen. Große und kleine Bühnen, herzliche und kritische Zuschauer, Ruhe und Stress vor den Vorstellungen. Viele kleine Mutproben. All diese lassen die jungen Menschen ihren ganz eigenen Weg finden.
Und es braucht Lebenserfahrung. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer – wollen sie mit ihrem Tanz vom Leben erzählen – müssen früh die Vielfalt der Welt und der Menschlichkeit kennenlernen. Dazu trägt einerseits ihr Alltagsleben in einer kulturell sehr heterogenen Gemeinschaft im Wohnhaus der Bosl-Stiftung bei. Dieser Alltag lehrt sie Offenheit für einander, Einfühlungsvermögen und ein wertfreies Annehmen von Unterschieden. Zusätzlich bieten die Gastspiele durch große und kleine Städte – nah und fern – zahlreiche Möglichkeiten zu Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, Kulturen, Bühnen, Lebensformen und Zuschauern. Diese Erfahrungen bilden den Horizont, vor dem die jungen Künstler wachsen können. Sie formen den Spielraum der Fantasie und das Vorstellungsvermögen, das – anstelle der Lebenserfahrung – die Quelle ist, aus der die jungen Künstler schöpfen.
In einigen Jahren werden die jungen Tänzerinnen und Tänzer von heute möglicherweise selbst im Zuschauerraum sitzen. Sie werden dann auf einen erfahrungsreichen Weg zurückblicken und von den vielen Fähigkeiten, die sie als Künstler entwickeln durften, profitieren. Ballett ist – trotz aller Langlebigkeit – für die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer eine endliche Kunstform. In ihrer Zeit auf der Bühne müssen sie den Bonus der Jugend früh in einen eigenen künstlerischen Ausdruck verwandeln – bei gleichzeitig höchster Technik und Präzision. Ballett führt uns – vielleicht deutlicher als andere Kunstformen – die Endlichkeit und Wandelbarkeit unseres Lebens vor.