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Essay

Worauf man als Erstes blickt: Kunstkörper – Körperkunst

von Anna Beke

Überraschend drastisch formuliert Tanzreformer Noverre, den die Tanzgeschichte vornehmlich als Wegbereiter des Tanzdramas – des ballet d’action – verehrt, hier seine Überzeugung, dass vom professionellen Tänzer ein absolutes Körperideal gefordert werde. Eines, das bei Nicht-Erfüllung zum Ausschluss dieses Berufes führt, da der Körper „das Erste sei, worauf man zu sehen habe.“

Tanzmedizin an der Münchner Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München

„Die Tänzer, welchen es an Wuchs und Figur fehlt, sollten dem Theater entsagen, und ein Handwerk ergreifen, wozu keine Vollkommenheit, weder im Bau des Körpers, noch in den Gesichtszügen, erfordert wird“.
ー Jean Georges Noverre, Lettres sur la Danse et sur les Ballets (1760)

Überraschend drastisch formuliert Tanzreformer Noverre, den die Tanzgeschichte vornehmlich als Wegbereiter des Tanzdramas – des ballet d’action – verehrt, hier seine Überzeugung, dass vom professionellen Tänzer ein absolutes Körperideal gefordert werde. Eines, das bei Nicht-Erfüllung zum Ausschluss dieses Berufes führt, da der Körper „das Erste sei, worauf man zu sehen habe.“ Demnach sind „entweder die Fehler der Bildung von der Beschaffenheit, dass sie auf keine Weise zu verbessern sind; in dem Falle muss man auf der Stelle den Gedanken fahren lassen, zum Vergnügen anderer zu tanzen; oder diese Fehler können durch unablässiges Studieren fortgeschafft werden“, womit sich Noverre bewusst an die Jugend wendet. Denn, so warnt er: „Es gibt […] Leute, welche zu spät, und zu der Zeit zu tanzen anfangen, wo man schon daran denken sollte, aufzuhören.“

Beschäftigte sich Noverre bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensiver mit den erforderlichen körperlichen Dispositionen für den Tänzerberuf – wie der Außenrotation der Hüfte, dem en dehors, auf welcher der gesamte Bewegungskodex des klassischen Tanzes, der danse d’école, beruht, einer außergewöhnlichen Flexibilität und zugleich Belastbarkeit aller Gliedmaßen sowie einer harmonisch-symmetrischen Gesamterscheinung des Körperbildes –, so war er hier keineswegs der Erste: Schon 150 Jahre zuvor vertrat Tanztheoretiker François de Lauze in seiner Apologie de la Danse (1623) die Ansicht, dass Tanzen einerseits einer fehlerhaften Körperbildung entgegenwirke und andererseits „eine geeignete Materie“ bräuchte, und „jeder, der einen schlecht gebauten Körper [habe], zur Anmut nicht fähig“ sei. 1723 verfasste der britische Choreograph John Weaver gar ein erstes anatomisch-analytisches Tanztraktat, die Anatomical and Mechanical Lectures upon Dancing.

Seit den ersten konkreteren Versuchen der Ausformulierung einer Tanzästhetik setzten sich Tanztheoretiker also bereits mit den physischen Voraussetzungen für Berufstänzer*innen auseinander; die Etablierung der Tanzmedizin als ganzheitlicher, den gesamten Menschen umfassender Disziplin ist jedoch ausgesprochen jung: Erst seit den 1980er Jahren ist diese namentlich in Deutschland belegbar, und erste Publikationen zu diesem Spezifikum der Sportmedizin wurden verfasst. Schon bald nahm Deutschland eine Vorreiterstellung ein, da hier mit ta.med, Tanzmedizin Deutschland e.V., 1997 die weltgrößte nationale Organisation auf diesem Fachgebiet gegründet wurde. Diese versteht sich als Anlaufstelle für Tanzschaffende aller Sparten und Leistungsstufen, bietet Fortbildungen an, vermittelt fundiertes Wissen und bringt Ärzte, Therapeuten, Sportwissenschaftler sowie Tanzpädagogen und Tänzer zusammen, dies u. a. bei dem alle zwei Jahre von ta.med veranstalteten Kongress. Seit 2015 ist es auch möglich, einen Master in Dance Science als umfassendes Studium der Tanzmedizin zu absolvieren – ein wichtiger Schritt und Neuland zugleich.

Die Notwendigkeit einer angewandten Tanzmedizin erscheint gegenwärtig größer denn je, und die physischen Anforderungen an Bühnentänzer*innen sind auf ein Maximum gestiegen, wie die ehemalige Balanchine-Ballerina Patricia McBride konstatiert: „None of us could do what these ballet kids now can do, not by a million times.“ Niemals waren die verschiedenen Tanzstile, welche Tänzer*innen heute beherrschen, physisch fordernder, virtuoser und grenzenloser in ihrem Bewegungsspektrum – wobei in die Vertikale strebender Spitzentanz des klassischen Balletts bzw. Fall- und Bodentechniken des zeitgenössischen Tanzes nur zwei sich gegenüberstehende Disziplinen des Bühnentanzes darstellen.

Für die Tanzmedizin gilt es daher, den gesamten Tänzer – und zwar in all seinen Lebensabschnitten – zu betrachten: Dies meint nicht nur die Feststellung der körperlichen Begabung zu Beginn der Tanzausbildung in Form eines anatomischen Eignungstests – welcher spätestens seit den Tagen Marius Petipas an der Kaiserlichen Ballettschule St. Petersburg seit Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert ist –, und dem tanzmedizinische „Checks“ als Neu-Evaluationen während des Studiums und der Berufsausübung bis hin zu Coachings zum Abtrainieren am Ende einer Tänzerkarriere folgen. Sondern ebenso sehr gehören Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation eines eventuell versehrten Tänzerkörpers dazu: Überlegungen, weshalb ein Tänzer sich verletzt hat, wie er schnellstmöglich wieder zu einer vollkommenen Herstellung seiner Fähigkeiten gelangen und chronischen Beschwerden vorbeugen kann. Auch Fragen nach der korrekt angewandten Technik des einzelnen Tänzers, welche die individuellen körperlichen Voraussetzungen und Bewegungstendenzen berücksichtigen, sind bedeutsam. Welche Schmerzen können noch als „normal“ und zum Trainingsalltag dazugehörig gelten, und welche weisen auf eine deutliche Überlastung hin? Darüber hinaus ist das Thema Ernährung zentral, da der Körper bekanntlich ist, was er isst, und eine ausgewogene Ernährung die beste Basis für einen gesunden, voll einsatzfähigen Körper darstellt: Neben der bekannten Problematik von Essstörungen bei vor allem jungen Tänzerinnen gilt es ebenso, aktuelle Ernährungstrends wie eine vegane Ernährung im Zuge der gesellschaftspolitischen Klima-Diskussion zu besprechen, um einer Mangelernährung entgegenzuwirken. Denn auch Tänzer*innen haben nur diesen einen Körper – einen, der keine Zinsen zahlt. Umso wichtiger erscheint es daher, diesem nicht nur physische Höchstleistungen abzuverlangen, sondern ihn auch zu verstehen und zu pflegen. Körperlichen Hochphasen müssen Rehabilitations- und Ruhephasen folgen, und Überlastung darf kein Dauerzustand sein. Etwas, das Tänzer*innen, die von Kindesbeinen an gewohnt sind, fortwährend über ihre Grenzen zu gehen, erst wieder lernen müssen. Der in der Tanzästhetik über Jahrhunderte hinweg geprägte Begriff der »Körpermaschine« für den Körper eines Berufstänzers oder degradierende Aussagen eines George Balanchine wie: „Young people don’t have injuries. Go home and read fairy tales“ gelten heute größtenteils als überholt.Innovative Organisationen wie ta.med, aber auch verantwortungsbewusste Ausbildungsstätten und Tanzensembles wirken ihnen glücklicherweise entgegen.

Auch dem Leitungsteam der Münchner Ballett-Akademie ist es ein besonderes Anliegen, der Tanzmedizin einen gebührenden Platz im Lehrplan einzuräumen; wobei besonders versucht wird, einen fließenden Übergang von Theorie und Praxis – durch die Vermittlung von Wissen über den eigenen Körper und das Anbieten alternativer Körpertherapien wie Pilates, Gyrotonic oder Yoga – zu erreichen. Ein fließender Übergang ist auch mit der Neubesetzung der Tanzmedizin-Dozentur gelungen: Marc Geifes, der Tanzmedizin seit Beginn dieses Jahres an der Ballett-Akademie lehrt und hier den Fokus auf funktionelle allgemeine sowie tanzspezifische Anatomie legt, ist Absolvent der Münchner Ballett-Akademie und hat lange Zeit als Halbsolist beim Bayerischen Staatsballett getanzt: „Es ist sehr schön, nach über 30 Jahren wieder in die Wilhelmstraße zurückzukehren“. Nach Beendigung seiner aktiven Tänzerkarriere schloss Geifes eine Ausbildung zum Physiotherapeuten sowie Pilates-Trainer an und absolvierte einen Bachelor in Physiotherapie in Amsterdam. Schon früh stellte für ihn die Weitergabe seiner Erfahrungen an die neue Tänzergeneration einen Schwerpunkt seiner Arbeit dar, weshalb er sich der physiotherapeutischen Betreuung verletzter Tänzer*innen verpflichtete, u. a. von Introdans, des Nederlands Dans Theaters und Het Nationale Ballets sowie, zurück in der Wahlheimat München, des Bayerischen Staatsballetts. Als großen Vorteil erachtet es Geifes, „wenn man selber klassisch und modern getanzt hat und die körperlichen sowie psychischen Anforderungen des Tanzberufs kennt: kurze Karriere, hohes Arbeitspensum, großer beruflicher Druck und die Tendenz zum Perfektionismus. Man weiß über die korrekte Ausführung des tanzspezifischen Bewegungsvokabulars Bescheid, kann Bewegungen analysieren, so die möglichen Schwachstellen finden und alternative physiologische Ausführungen der Bewegungen individuell vorschlagen.“ Geifes’ langjährige Tätigkeit als Tänzer kommt ihm auch bei Erklärungen zugute, etwa „was bei einem Warm-up oder dem ebenso wichtigen Cool-down als Einleitung der Regeneration mit dem Körper geschieht“ – beides sind „große Schritte in Richtung Verletzungsprävention.“

Was Geifes seinen Studierenden besonders mit auf den Weg geben möchte, ist das Bewusstsein der Eigenverantwortlichkeit: „Niemand außer dem Tänzer selbst kann in seinen Körper hineinhorchen, um zu entscheiden, wie weit gehe ich heute? Nehme ich eine Verletzung in Kauf, oder sollte ich jetzt lieber stoppen, bevor ich mich verletze? Wie passe ich die Technik an meinen individuellen Körper an? Was brauche ich, um bestmöglich zu regenerieren?“ Ebenso zentral ist die Frage des Umgangs mit dem eigenen Körper bei besonders angespannten Phasen wie einer intensiven Probenzeit vor Premieren oder Überlastungsproblemen vor Prüfungen, wenn „sich Regenerationszeiten verkürzen und körperliche Strukturen nachgeben“. Bei immer wiederkehrenden Verletzungen rät Geifes, „die eigene Technik und Intensität der Belastung unter die Lupe zu nehmen: Mit kleinen Technikkorrekturen kann man viel erreichen und Überbelastungen vermeiden.“ Von der Bedeutsamkeit des Unterrichtsfachs Tanzmedizin ist Marc Geifes jedenfalls überzeugt: „Wie kann ich mich in die erste Position stellen, ohne zu wissen, was eine Beinachse ist? Wie platziere ich mich korrekt, wenn ich nicht weiß, wie ich meinen Rumpf stabilisiere? Für angehende Tänzer ist das essentiell und auch für das Leben nach dem Tanz. Und das ist bekanntlich deutlich länger als die Tänzerkarriere selbst.“

Von Beginn an behutsam und respektvoll mit einem Tänzerkörper, der Instrument und Kapital des Tänzers zugleich ist, umzugehen, ist daher für die angehenden Tänzer*innen selber wichtig, aber ebenso für das unterrichtende Personal: Dies bestätigte auch die Gründerin der Münchner Ballett-Akademie Konstanze Vernon, die einst in einem Interview bezüglich des Auswahlverfahrens von Tanzstudierenden feststellte: „Am besten ist es, wenn man sich in den frühen Jahren so wenig wie möglich irrt. Aber es ist sehr schwer, weil man ja nur den Körper prüfen kann.“ Und so bleibt der Körper – mit Noverre gesprochen – tatsächlich das, worauf man als allererstes beim Tänzer blickt, der Körper eines Tänzers ist ein Kunstkörper, und Tanz – zumindest in weiten Teilen – Körperkunst.

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