Essay
Vom Spirit Hans van Manens – Unisono kehrt ins Nationaltheater zurück
von Anna Beke
Wenn sich der Bühnenvorhang hebt, geschieht zunächst – nichts. Vier Takte lang verharren 30 der 48 an «Unisono» beteiligten Kinder und Jugendlichen in unbewegter Stille, streng geordnet in sechs Reihen, die Arme am Körper anliegend, die Füße parallel in 6. Position, das Gewicht leicht nach vorn verlagert – die ‚Hans-van-Manen-Pose‘. Gleich Säulen einer Kathedrale ergeben die jungen Tänzer*innen ein architektonisches Bild aus Menschengestalten. Gabriela Nicolescu, die das Werk seit bald vier Jahrzehnten an der Münchner Ballett-Akademie einstudiert, ist sich gewiss: „Diese vier Takte ohne Bewegung, das hat eine enorme Wirkung und ist – wenn alles stimmt – schlicht Magie.“

Während das Publikum noch über den Anfang staunt, schiebt sich die erste Bewegung in den Raum: ein kollektives Atmen und Schreiten, mit dem «Unisono» choreografisch eröffnet – ein Beginn nicht mit großer Aktion, sondern mit kontemplativer Sammlung. «Unisono» ist ein Werk, das aus der Stille wächst und mit ihr ringt, um Tanz als Übung zu zeigen: „in Konzentration, Zusammenarbeit und Musikalität“.
Aus dem Trainingssaal auf die Bühne
Dass Hans van Manen (*1932), der große ‚Ingenieur des Tanzes‘ und Minimalist der Bewegung, mit «Unisono» ein Werk für Kinder schuf – eines der wenigen im über 100 Werke zählenden Gesamt-Œuvre des niederländischen Meisterchoreografen – scheint auf den ersten Blick überraschend. Doch die Logik dahinter wird schnell ersichtlich: Wer, wenn nicht Kinder, könnte mit solcher Unvoreingenommenheit an eine ‚Übung‘ herangehen, die im Kern weniger eine pädagogische Fingerübung darstellt als ein choreografisches Experiment? Wie so typisch für van Manen kommt «Unisono» ganz ohne Schnörkel, Kulisse oder erzählerisches Beiwerk aus. Schwarze Trikots, weiße Beinkleider, einfache Schläppchen – nichts lenkt von der Essenz des Tanzes ab, von seiner luziden Klarheit: dem Körper im Raum, der Musik und der gemeinsamen Struktur. „Dekoratives darf nicht sein. Kein Schnickschnack, ein Choreograf muss ohne Fransen arbeiten, alles muss ganz einfach werden“, beschreibt van Manen die Philosophie seiner Arbeit.
Entstanden ist «Unisono» 1978 am Königlichen Konservatorium in Den Haag – van Manens urbanem Wirkungsort und seiner Heimstätte für Jahrzehnte – für nicht weniger als 50 Schülerinnen und Schüler der Ballettabteilung. Der Entstehungsort des Stücks – ein Ausbildungsinstitut, kein professionelles Tanzensemble – verweist auch hiermit auf die innere Intention des Werks als künstlerische Schulung: nicht nur für Arme und Beine, für Port de bras und Arabesque, sondern für Geist und Aufmerksamkeit.
Dass eine „Übung“ fest auf den Spielplänen etablierter Ausbildungsstätten von Wien bis Hamburg – und seit langer Zeit München – verankert ist und sich dort seit fast einem halben Jahrhundert hält, mag neben der Tatsache allein, dass van Manen es choreografiert hat, auch am komplexen Charakter dieses zehnminütigen Kleinods liegen: zugleich streng und frei, radikal reduziert und doch von zeitloser Ästhetik und Anmut. Die Musik – Joseph Haydns Violinkonzert in C-Dur und das ikonische Air aus Johann Sebastian Bachs dritter Orchestersuite – trägt das Ihre zum anhaltenden Erfolg von «Unisono» bei. Handelt es sich doch um zeitlose Partituren – Klassiker der Klangkunst, die in der choreografischen Adaption nichts Pathetisches haben, sondern dieser in ihrer luziden Klarheit kongenial zur Seite stehen.
Seit 1987 zählt «Unisono» zum Repertoire der Münchner Ballett-Akademie – 2011 gelangte es dort zuletzt auf die Bühne des Nationaltheaters. Seit den 1970er Jahren pflegte Konstanze Vernon, Gründerin des Bayerischen Staatsballetts und langjährige künstlerische Leiterin der Ballett-Akademie, enge Bande zu van Manen und brachte einige seiner choreografischen Signaturstücke nach Bayern. Wenn die beiden Pädagoginnen Gabriela Nicolescu und Maximiliane Hierdeis das Werk heute wieder mit einer neuen Generation an Tänzerinnen und Tänzer in München einstudieren, tun sie dies ganz im Geiste dieser jahrzehntelangen Tradition und Verbindung. Beiden ist gewiss, dass sie mit «Unisono» nicht nur ein Stück Choreografie weitergeben, sondern eine ganze Haltung – den Geist und Spirit des Choreografen selbst.
Trotz aller Pflege eines kostbaren Erbes zeigt sich in der aktuellen Münchner Version, dass auch ein solches ‚historisches‘ Werk lebendigem Wandel unterliegen kann: In München ursprünglich nur mit Mädchen besetzt, sind seit der jüngsten Einstudierung bei der Ballettschule des Hamburg Ballett durch die beiden Münchner Pädagoginnen auch Jungen Teil der Besetzung. Diese stehen tatsächlich nicht nur für eine andere Power und Präsenz, die «Unisono» bereichern und zeitgemäß wirken lassen, wie Hierdeis betont, sondern bringen die Münchner Version gleichzeitig näher an die Originalfassung von 1978 – in dieser waren von Beginn an männliche Ausbildungsschüler integriert. Die vermeintliche Münchner Modernisierung entpuppt sich somit als Originaltreue und steht für Tradition und Innovation zugleich.

Formelle Strenge und poetische Klarheit
Die Bilder, die das Ausbildungsstück entwirft, haben nichts Kindliches im ursprünglichen Sinn. Sie folgen einer klaren Gliederung und bestechen mit geometrischer Präzision, die dem Corps de ballet eines professionellen Ensembles nicht nachstehen: Kreise, die sich wie Strudel ins Zentrum ziehen, oder Diagonalen, die den Raum zerschneiden und sich in Knotenpunkten verdichten. „Ihr müsst Schulter an Schulter sein, sonst klappt die Formation nicht“, rufen die Pädagoginnen während einer Probe durch den großen Saal der Ballett-Akademie. Ein Satz, der fast zum Motto des Stücks werden könnte: Präzision ist hier nicht mechanische Disziplin und Wiedergabe, sondern Bedingung für Gemeinschaft.
Die Bewegungen der Choreografie selbst scheinen vermeintlich ‚simpel‘ und schlicht: Gehen, Wenden, Port de bras in der Formsprache des neoklassischen Balletts. Doch im präzisen Timing entstehen aus dem Einfachen wunderbare, nahezu sakrale Bilder, die sich einprägen. Die Simplizität des Materials wird so zur Essenz – zur Reduktion auf das Wesentliche, aber niemals Oberflächliche.
Für Nicolescu und Hierdeis liegt die besondere Herausforderung dieser spezifischen Choreografie genau darin, den Kindern die Schönheit dieser Reduktion zu vermitteln. „Arabesque 90 Grad ist 90 Grad – und bleibt 90 Grad“, konstatiert Hierdeis. „Diese Klarheit und minutiöse Genauigkeit muss man weitergeben. Und man muss ihnen beibringen, dass selbst eine kleine Bewegung – ein Arm von oben nach unten etwa – eine ganz besondere Bedeutung haben kann.“ Die Bedeutung der erst zu schaffenden Bilder für die Kinder betont auch ihre langjährige Kollegin: „Wenn man den Kindern sagt: Stellt euch vor, ihr streichelt die Luft, dann verändert sich die Qualität der Bewegung. Die Hände vermögen anders zu agieren, und das Publikum erkennt diesen Unterschied unmittelbar.“
Gerade für die heutige Zeit sei die Arbeit der Kinder an «Unisono» eine große Kostbarkeit. „Hier geht es um Entschleunigung, Bewusstsein, Haltung – aber eben unbedingt auch um Konzentration. Das ist für Kinder, die außerhalb des Ballettsaals viel Hektik und Unruhe erleben, ungewohnt, aber auch ein großes Geschenk.“ Jeder Schritt, so unscheinbar er zunächst wirken mag, trägt Verantwortung für das Ganze. Das individuelle solistische Glänzen steht hier also nicht im Vordergrund, sondern die gemeinsame Präsenz und Aura. „Man muss eben nicht nur ein Tendu oder Jeté lernen, sondern man muss auch lernen, musikalisch zu sein, mit anderen zusammen – und sich konzentrieren zu können, wenn es gefordert ist. Es nutzt nichts, wenn man das erst nach der Vorstellung oder am Abend ist. Das muss man üben“ – davon ist Hierdeis überzeugt. Neben der Betonung der Gemeinschaft sieht die Dozentin in dieser choreografischen Arbeit trotz allem auch eine große Fokussierung auf sich selbst gegeben. „Du musst alles andere ausschalten. Alles hat seinen Rhythmus, seine Musikalität. Der Rahmen der Bewegung ist klar gegeben – hierin allein wird sich bewegt. Das ist heute von unschätzbarem Wert.“
Dabei erleben die Kinder ein Glücksgefühl, das über technische Präzision in der Ausführung hinausgeht. In einer Zeit, die von Individualismus geprägt ist, erfahren sie auch die Kraft der Gruppe, die Schönheit der Synchronität, die Ruhe des konzentrierten Atems – und letztlich die eigene Identifikation mit der gemeinsamen Bewegung. „Es hat etwas Meditatives, und das tut in der heutigen Zeit wahnsinnig gut“ – «Unisono» als ein Gegenentwurf und Kontrapunkt zur Vereinzelung und ständigen Selbstdarstellung.

Menschliche Beziehungen
„Tanz handelt von Tanz“, lautet van Manens berühmter Slogan. Doch «Unisono» widerspricht ihm ebenso offen wie viele andere seiner Werke, die zwar keiner linearen Erzählstruktur folgen, aber dennoch Geschichten auf ihre spezifische Weise erzählen. Geht es hier doch in erster Linie um Beziehungen zwischen Menschen – um humane Kommunikation im Kollektiv. „«Unisono» handelt letztlich von Zusammenarbeit, davon, wie Menschen zueinander finden“, da sind sich beide Pädagoginnen einig.
Wenn am Ende des ersten Teils von «Unisono» alle Kinder hinten in der Bühnenmitte dicht verschachtelt beieinander und miteinander stehen – eben Schulter an Schulter –, entsteht kein Chaos, sondern ein Bild von Gemeinschaft, das sich auf den Zuschauerraum überträgt. „Es ist, als ob man mit dem ersten Ton den unsichtbaren, aber so stark fühlbaren ‚Hans-van-Manen-Mantel‘ anzieht und ihn mit dem letzten Ton wieder auszieht“, beschreibt es Nicolescu. „In diesen zehn Minuten sind die Kinder wie verwandelt.“ «Unisono» gleicht mit seiner sakralen Aura tatsächlich einer Kathedrale aus Körpern – erbaut für einen Augenblick und errichtet von jenen, die gerade erst beginnen, die Kunstform Tanz zu lernen und bei jeder Probe weiter über sich hinauswachsen. Beim Zusehen begreift man, wie viel Größe im vermeintlich Einfachen liegen kann – und wie viel Weisheit in Hans van Manens-Satz: „Alles muss ganz einfach werden.“