Backstage

Essay

Warum wir Tanz lieben

von Deike Wilhelm

Wir müssen verzichten. Auf Kunst, Kultur und den Tanz. Wochenlang sind die Theater schon geschlossen. Es ist ein herber Einschnitt für alle Kulturschaffenden und Kultur-Liebhaber. Finanziell, geistig und seelisch. Warum benötigen wir kulturellen Input? Warum brauchen wir unsere Theater?

Auch wenn wir derzeit ein plötzliches Erblühen von Tanz und Theater im virtuellen Raum erleben, so fehlt dort doch die „Aura“, wie Walter Benjamin jenen Zauber nennt, der sich nur im unmittelbaren Erleben einer kulturellen Darbietung entfalten könne. In der Isolation sitzen wir vor unseren Computern, Tablets, Smartphones oder sonstigen digitalen Geräten, die uns mit der Theaterwelt verbinden. Die Eroberung des digitalen Raums durch die Tanzwelt ist sicher ein wichtiger Schritt. Dennoch – es ist nicht vergleichbar mit dem Erleben des „heiligen Raumes“ der Bühne, der uns in Dunkelheit mit den Künstlern und allen anderen Zuschauern verbindet. Wird etwas im gestreamten Stück zu anstrengend, so können wir abschweifen oder auch anderen Tätigkeiten parallel nachgehen. Die digitale Welt kann ergänzen, kann inspirieren und Teil des gesamten Erlebnisses sein, doch sie wird niemals die Intensität des Theater-Erlebnisses ersetzen. Vielleicht spüren wir mehr denn je, dass ein Leben ohne Kunst und Kultur ein Leben ist, dem etwas Wesentliches fehlt.

Kurz vor der Schließung aller Theater und kurz vor Einstellung des Proben-Betriebs auch des Bayerischen Junior Ballett München feierte die Company einen großen Erfolg bei ihrem Gastspiel in Hameln. Standing Ovations und ein nicht enden wollender Applaus. Mindestens zehn Applaus-Vorhänge hat das Bayerische Junior Ballett München erlebt. Das Publikum zeigte lebhaft und enthusiastisch seine Begeisterung. Schon ab dem ersten Stück «Im Wald», choreografiert vom Dortmunder Ballettdirektor Xin Peng Wang, war zu spüren, dass das Publikum von den sieben jungen Tänzern auf der Bühne in den Bann gezogen war. Stille. Eine atemlose Spannung, die sich erst im Applaus entlud. Mit jedem weiteren Stück nahm der Applaus zu und die Energie, die zwischen Zuschauerraum und Bühne hin und her zu schwingen schien, wuchs mit jedem einzelnen Schritt und jeder Bewegung weiter an. Was genau war hier passiert? Was fesselt uns Zuschauer so sehr am Ballett und was genau vermögen die jungen Tänzerinnen und Tänzer in ihren Zuschauern auszulösen?

Die jungen Tänzerinnen und Tänzer leben uns auf der Bühne etwas vor, was zutiefst menschlich ist: sie bewohnen ihren Körper. Sie füllen ihn mit jeder Faser ihres Seins aus. Wir erleben als Zuschauer lebendige und bewohnte Körper. Lebendige Körper in Schönheit und Bewegung. Und da wir alle letztlich Wesen der Natur sind, klingt allein durch die Betrachtung der bewohnten Körper bei uns etwas zutiefst Menschliches an. Spielte noch vor wenigen Generationen die körperliche Arbeit im menschlichen Alltag eine wesentliche Rolle, so sind wir heute bei allen Tätigkeiten meist getrennt von unseren Körpern. Er hat uns zu dienen und zu funktionieren. Tut er das nicht, bemerken wir vielleicht zum ersten Mal, dass wir einen Körper haben. Und doch ist da eine unbestimmte Sehnsucht nach der Verbindung zum eigenen Körper, die manch einer nur erahnt und die ein anderer vielleicht konkret benennen kann. Und diese Sehnsucht wird ein großes Stück weit beim Ballett im Zuschauerraum erfüllt. Allein durch das Betrachten der Tänzerinnen und Tänzer. 

Denn die Zuschauer tanzen tatsächlich innerlich mit. Das wurde wissenschaftlich nachgewiesen: Bei den Zuschauern einer Ballett-Vorstellung wird durch das reine Beobachten des Tanzens das Spiegelsystem aktiviert und eine Art Trainingseffekt im Gehirn bewegt. Auch wenn die Zuschauer unbeweglich auf ihren Stühlen sitzen, so spielt sich in ihren Muskeln das Gleiche ab wie beim Tänzer selbst: Gehirn und Muskeln werden trainiert. In unserem Gehirn werden dabei Areale aktiv, die an der Empathie beteiligt sind. Die Wissenschaftler vermuten, dass zwei verschiedene Mechanismen für dieses innerliche Mittanzen verantwortlich sind: Zum einen löst das Spiegelsystem eine direkte Resonanz in der Muskel- und Gehirnaktivität aus – völlig unbewusst und unabhängig von der Vorerfahrung der Zuschauer. Zum anderen spielt aber auch das Mitempfinden und die Kenntnis der Zuschauer eine Rolle. Empathische und erfahrene Zuschauer zeigen mehr Muskel- und Gehirnreaktionen als weniger empathische Zuschauer. Somit sind regelmäßige Ballett-Besucher trainierter als Zuschauer-Neulinge: ihre Gehirnregionen sind aktiver und stärker erregbar. Der berühmte Bühnenregisseur Peter Brook schreibt: „Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen begannen die Neurowissenschaften zu verstehen, was das Theater seit jeher wusste!“ Wir erleben als Ballett-Zuschauer die Verbindung von Körper und Mensch. Und werden an die Freude erinnert, die es bedeutet, sich der Musik hinzugeben, ganz bei sich zu sein und zu tanzen. Eine der ersten Freuden im Leben eines Menschen. Die Bewegung zu Rhythmus. Das wohnt uns zutiefst inne.

Spannend ist dabei, dass das Bayerische Junior Ballett München zwei konträre und sich zugleich ergänzende Welten verkörpert: Die jungen Tänzerinnen und Tänzer haben jahrelang an Akademien studiert, in denen sie im klassischen Ballett vor allem eine Betrachtung von außen gelernt haben. Sie lernen im Training über die Kontrolle im Spiegel oder durch die Korrekturen des Lehrers oder Choreografen, wie sich die von außen angesehene Position anfühlt, um sie dann ohne diesen Blick von außen wieder einnehmen zu können. Das klassische Ballett richtet sich somit am Betrachter-Blick aus. Zeitgenössischer Tanz hingegen verlagert häufig den Fokus nach innen. Es geht um ein Spüren der Bewegung, einer dem individuellen Körper angemessenen Ausführung der Bewegung. Es geht im zeitgenössischen Tanz nicht um ein „Körper-Haben“, sondern vor allem um das „Körper-Sein“. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Balletts leben und tanzen beide Stile mitsamt ihrer Ausrichtung nach innen und außen gleichermaßen während ihrer zwei Jahre in der Company. Und das überträgt sich auf den Zuschauer. So beeindrucken viele der zeitgenössischen Kreationen wie «Im Wald» oder auch das zuletzt erschienene «When She Knew» als ungemein ästhetische Kreationen, die uns über die schöne Bewegung hinaus sehr viel tiefer berühren. Sie erscheinen beinahe wie eine Meditation in Bewegung oder wie ein getanztes Gebet. Und wir Zuschauer dürfen teilhaben an diesem fast sakralen Akt. Das öffnet Herzen. Und genau das benötigt unsere Gesellschaft heute mehr denn je.  

Die insgesamt seit Jahren steigenden Zuschauerzahlen im Bereich Tanz beweisen, dass die wortlose Sparte im Theater Erfolg feiert. Wie die Statistik des Deutschen Bühnenvereins zeigt, ist der künstlerische Tanz bundesweit die am besten ausgelastete Sparte an den Theatern. Außerdem richtet sich Tanz an ein generationenübergreifendes Publikum zwischen fünf und achtzig. Tanz spricht die Menschen unmittelbar an. Während Schauspiel eher den Intellekt fordert und die inhaltlichen Zusammenhänge einer Oper teilweise vorher studiert werden müssen, ist die Körpersprache Tanz viel direkter verständlich. Doch mehr noch als alles vielleicht: die jungen Tänzerinnen und Tänzer führen uns vor, was Schönheit ist. Sie zeigen eine tiefe Hingabe an die Musik, an jede einzelne Bewegung und an den Raum, in dem sie sich bewegen. Sie zeigen Schönheit in erstaunlich solider Technik. Dabei kultivieren sie eben gerade nicht nur die äußere Schönheit in Bewegung, sondern vor allem auch eine innere. Sie lassen ihr inneres Licht strahlen. Für uns. Aber auch für sich selbst. Und das ist es, was unsere Gesellschaft braucht: Menschen, welche die innere Schönheit unseres Menschseins kultivieren. Und genau deshalb braucht unsere Gesellschaft Tanz. Kunst und Kultur. Die neu erblühte digitale Tanz-Welt kann einen großen Beitrag dazu leisten – vielleicht eröffnet sie dem Publikum, das nun vermehrt zur Interaktion, zum Mittanzen und letztlich zu Eigenverantwortung aufgefordert ist, neue Möglichkeiten, die eigene innere Schönheit zu kultivieren. Doch niemals wird das die Magie ersetzen, die sich erst in der unmittelbaren Begegnung zwischen Künstlern und Zuschauern entfaltet. Jener Zauber, der unsere Herzen öffnet.