Backstage

Essay

Raymonda – Höhepunkt und Schwanengesang

von Anna Beke

„Mr Petipa’s creativity, his highly artistic taste and mastery, spoke in Raymonda in their full beauty and power. The balletmaster carefully avoided any ‚stunts‘ striking for effect – everything in Raymonda is artistic, intelligent, and beautiful.“ (Theatre Echo, in: Petersburg Gazette, 8. Januar 1898)“

Mit zahlreichen bedeutenden Namen des Klassischen Tanzes ist die Ära des Kaiserlichen Balletts in St. Petersburg im vorletzten Jahrhundert verbunden, doch der französische Tänzer und Choreograf Marius Petipa (1818-1910) stellt unangefochten deren Zentralperson da. Dies nicht nur, weil er ab 1847 über ein halbes Jahrhundert in Russland gewirkt und mit seinen mehr als sechzig Werken die dortige Tanzkultur geformt hat, sondern vor allem, weil mit seiner Person die eigentliche Blütezeit des Russischen Balletts zusammenhängt. Petipa ist Begründer des „ballet à grand spectacle“, das als choreografische Antwort auf die großen Opern des 19. Jahrhunderts zu verstehen ist. In der Hochphase der Neunziger Jahre entstehen mit den Tschaikowsky-Balletten «Dornröschen» (1890), «Nussknacker» (1892) und «Schwanensee» (1895) die Meisterwerke dieser Zeit. Bis zu diesem Gipfelpunkt müssen jedoch mehrere Dekaden vergehen, denn das Imperiale Ballett ist vor allem in den Siebziger und Mittachtziger Jahren in einer Starre des Konventionellen gefangen. Von daher entstehen in diesen nahezu vierzig ersten Schaffensjahren Petipas zunächst eher vereinzelt bedeutende Werke, wie «La Fille du Pharaon» (1862), «Le Corsaire» (1863), «Don Quixote» (1869), «La Bayadère» (1877) oder «Paquita» (1881).

Dass die wenig fruchtbare Phase des Russischen Balletts ab Mitte der Achtziger Jahre ein Ende hat und mit den Tschaikowsky-Balletten wie auch mit «Raymonda» (1898) zur Komposition Alexander Glasunows zu ihrem triumphalen Höhepunkt gelangt, hängt vor allem mit zwei Veränderungen zusammen. Erstens, dass 1885 nach einer längeren Zeitspanne ohne Auftritte ausländischer Tänzerinnen in Russland eine italienische Ballerina namens Virginia Zucchi mit ihrer sensationellen Tournee das dortige Tanzgeschehen aus der Erstarrung löst, und mit ihr ein Schub italienischer Virtuosinnen in Russland zu gastieren beginnt. Diese Tänzerinnen bleiben fortan langfristig in Russland und prägen mit ihrer technischen Virtuosität den sich allmählich entwickelnden ‚typisch russischen Ballettstil‘. Zweitens kann als der andere, für den Durchbruch der Ballettklassik entscheidende Wendepunkt gelten, dass mit Ivan Wsewoloschski 1881 ein Direktorenwechsel am St. Petersburger Mariinsky Theater stattfindet. Dieser ist insbesondere Initiator für die künstlerische Zusammenarbeit zwischen Petipa und Peter Iljitsch Tschaikowsky bzw. – nach Tschaikowskys Tod 1893 – Petipa und Glasunow. Mit der Verabschiedung Wsewoloschskis 1899 und der Übernahme seiner Stellung durch Wladimir Telyakowsky geht die Ära der Ballettklassik kurz nach ihrem Höhepunkt zu Ende. Denn der neue Künstlerische Leiter lässt nichts unversucht, um den in seinen Augen veralteten Petipa gegen den jüngeren Moskauer Choreografen Alexander Gorsky auszutauschen, dessen Neueinstudierung von «Don Quixote» er 1902 demonstrativ nach St. Petersburg bringen lässt. Zwar setzt Petipa seine Arbeit fort, doch während sein Ballett «Der magische Spiegel» (1903) bereits nach der zweiten Vorstellung abgesetzt wird, erlebt das 1904 fertiggestellte Werk «La Romance d’un Bouton de rose et d’un Papillon» nicht einmal mehr seine Uraufführung.

Musikalisches Neuland

Hatte sich Petipas letzte Schaffensperiode wenig glücklich gestaltet, hat der wohl einflussreichste Ballettchoreograf aller Zeiten nichtsdestotrotz die Jahrhunderte überdauert, und seine Werke stellen bis zur Gegenwart die Grundlage des Kanons des Klassischen Tanzes weltweit dar. Maßgeblichen Anteil am anhaltenden Erfolg der Gipfelwerke Petipas haben fraglos auch die Komponisten Tschaikowsky und Glasunow. Beide schufen nicht mehr vornehmlich funktionelle Musik für das sogenannte ‚Nummernballett‘, sondern fanden erstmals für das jeweilige Stück mit seiner besonderen Handlung und Atmosphäre charakteristisch musikalische Themen oder Motive. Es galt nicht mehr allein das Prädikat ‚tanzbar‘, aufgrund von Rhythmus und einprägsamer Melodik als entscheidend, sondern beide Komponisten liefern höchst anspruchsvolle, symphonisch aufgebaute Musik, die es vermag, eine stimmungsreiche Klangwelt zu erschaffen und selbst außerhalb des Theatersaals zu bestehen.

Die künstlerische Synthese aus hochgradig virtuosem Tanz und symphonisch anspruchsvoller Komposition wird zum eigentlichen Merkmal der Ballettklassik und zugleich zum Vorreiter des Balletts des 20. Jahrhunderts. „Tanz handelt von Tanz“ gilt als Credo neoklassischer Choreografinnen und Choreografen des 20. Jahrhunderts wie George Balanchine oder Hans van Manen. Als Vorbild dieser künstlerischen Haltung müssen jedoch bereits die Petipa-Werke der 1890er Jahren gelten, allen voran das Ballett «Raymonda». Erstklassige Tanzkunst und Komposition sind Petipa als Inhalt und Gestaltungsträger genug, um ein Ballett zu realisieren, das das Publikum zu begeistern vermag.

Raymonda. Tanz als Gestaltungsträger

Kein Tanz ohne Tänzer. Mittelpunkt von Petipas Schwanengesang «Raymonda», den er in seinem 80. Lebensjahr kreiert, ist wie stets die Ballerina. Den konkurrenzlosen Star stellt die Interpretin der Titelfigur Pierina Legnani dar, der seit ihrem Debüt in «Cinderella» 1893 die St. Petersburger Ballettwelt zu Füßen liegt. Größten Eindruck hinterließ die Prima Ballerina Assoluta bei Tamara Karsawina, der bedeutenden Ballets Russes-Tänzerin, die Legnani in ihren Memoiren 1930 zum Vorbild ihrer Generation erklärt:

This Italian ballerina [held] for over ten years successfully the stage as a prima ballerina assoluta. […] One of her tour de force was 32 fouettés. […] Legnani walked to the middle of the stage and took an undisguised preparation. […] Then a whole string of vertiginous pirouettes, marvellous in their precision […] worked the whole audience into ecstasies. Academically, such an exhibition of sheer acrobatics was inconsistent with purity of style; but the feat, as she performed it, had something elemental and heroic in its breathless daring. […] All the girls, big and small, constantly tried to do the 32 turns. In the evenings […] one constantly saw figures like turning Dervishes wherever a mirror was available. We turned in the dancing rooms, turned in the dressing room, turned in the dormitory, tumbling down after a few turns and beginning again.

Mustergültig wird in «Raymonda» klassischer, Demi-caractère und Charaktertanz miteinander verwoben und überstrahlt dank seiner superben musikalischen und choreografischen Qualität auch die schlichte zweitrangige Handlung. Zurückgehend auf das Libretto von Lidija Paschkowa und Marius Petipa wird in «Raymonda» die Dreiecks-Geschichte zwischen der Titelfigur mit dem Kreuzritter Jean de Brienne – Raymondas Verlobtem – und dem Sarazenen-Fürsten Abderakhman während der Zeit der Kreuzzüge erzählt; diese wiederum ist angesiedelt in einem mittelalterlichen Frankreich des 12. Jahrhunderts.

Wie so oft bei Petipa gipfelt auch dieses dreiaktige Ballett in Nachfolge «Dornröschens» in einem umfangreichen Hochzeits-Divertissement, das ganz auf die Repräsentation der tanztechnischen Raffinessen der „Danse d’école“ ausgelegt ist. Wie für ein „grand ballet“ Petipas typisch, beginnt und endet «Raymonda» mit einem sogenannten ‚bunten Akt‘, welcher das Geschehen vorantreibt, während sich dazwischen rein auf den Tanz konzentrierte Szenen ohne größere Handlungsrelevanz befinden, die sich als Relikt des romantischen „Ballet Blanc“ ausweisen. Speziell hier, in diesem letzten zentralen Ballett Petipas, lässt sich ein deutlicher Einfluss der italienischen Féerien ausmachen, großangelegter Ballett-Spektakel, die in erster Linie auf tanztechnische Bravour und opulente Ausstattung setzen.

Neben den beiden im Petipa-Original überlieferten Solo-Variationen der Titelfigur gilt der „Grand Pas de dix Hongrois“ aus dem dritten Akt als Herzstück des Balletts. Die Studierenden der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München, die bei der diesjährigen Herbst-Matinee Ausschnitte aus «Raymonda» tanzen, zeigen als eine Besonderheit der Münchner Adaption von Ray Barra (geb. 1930) aus dem Jahr 2001 auch den sogenannten Kindertanz, der direkt nach der Uraufführung 1898 aus dem Ballett verschwunden war; erstmals für seine Einstudierung beim Bayerischen Staatsballett wurde dieser von Barra wieder eingefügt. Größtes Anliegen war Ray Barra bei seiner choreografischen Arbeit, seine «Raymonda»-Version dem Petipa-Original so nah zu bringen wie nur möglich, das Ballett zugleich aber auch für heutige Sehgewohnheiten attraktiv und die etwas eindimensionalen Charaktere des Balletts zu glaubwürdigen Menschen zu gestalten – womit der ehemalige John Cranko-Tänzer ganz dem Ideal seines viel zu früh verstorbenen Mentors des Stuttgarter Ballettwunders folgt.

War «Raymonda» im 20. Jahrhundert einige Zeit lang wenig beachtet worden, so haben vor allem George Balanchine, Frederick Ashton und der choreografierende Startänzer Rudolf Nurejew zu eigenen Lesarten des Glasunow-Balletts gefunden und eine gewisse «Raymonda»-Renaissance im Westen eingeleitet. Große Anerkennung erhielt darüber hinaus die der Stepanow-Notation zugrunde liegende Rekonstruktion von Sergei Vikharev am Mailänder Teatro alla Scala aus dem Jahr 2011, womit «Raymonda» auch das 21. Jahrhundert erreicht hat. Der künstlerische Leiter der Münchner Ballett-Akademie, Jan Broeckx, ist von der Wichtigkeit einer Beschäftigung mit diesem Meisterwerk Marius Petipas und Alexander Glasunows überzeugt: „Für angehende Tänzerinnen und Tänzer ist das Ballett «Raymonda» eine wertvolle Quelle der Inspiration und Technik, da es die Grundlagen des Tanzes und die Ausdruckskraft der Bewegung lehrt. Zudem fördert es das Verständnis für die Geschichte des Balletts und dessen evolutionäre Veränderungen, was für die künstlerische Entwicklung unerlässlich ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Werk ermöglicht es, Traditionen zu bewahren und gleichzeitig neue Interpretationen zu schaffen, die das Publikum von heute ansprechen.“

Die Frage, ob Ballett noch heute Zuschauerinnen und Zuschauer zu fesseln vermag, stellt sich für den Belgier erst gar nicht, denn er ist fest überzeugt: „Klassischer Tanz kommt immer beim Publikum an“ – das war schon 1898 so und ist offenbar rund 125 Jahre später immer noch der Fall. „Ich bin ein Phänomen“, schrieb Marius Petipa einst selbstbewusst über sich selbst, dem kann man angesichts der gewissen Zeitlosigkeit seines choreografischen Œuvres nur zustimmen.

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